Die Lehre der hl. Therese von Lisieux von Bernd Bangerth

Weg
Bei dem nachfolgenden Text handelt es sich um zwei Kapitel aus der Diplomarbeit „Das kontemplative Ideal in der karmelitischen Mystik“ von Bernd Bangerth

Zusammenfassung
Gott will den Menschen immer tiefer in die Vereinigung mit ihm hineinführen. Zu den theologischen Tugenden kommen die Gaben des Heiligen Geistes, die uns ein gewisses erfahrungsmäßiges Erkennen der göttlichen Wirklichkeit ermöglichen. An dieser Stelle betreten wir den Bereich der Mystik. Denn auf Grund der Gaben des Heiligen Geistes entsteht eine neue Weise der Gotteserkenntnis, die zugleich eine neue Art des Gebetes darstellt: die Kontemplation. An die Stelle der Betrachtung mit ihren vielen Einzelerkenntnissen tritt ein einfaches liebevolles Schauen auf Gott.

Diese Diplomarbeit ist durch den Autor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz geschrieben worden. Sie ist durch P. Prof. Dr. Wolfgang Buchmüller OCist betreut worden.

Der Text wird hier unter der Creative-Commons-Namensnennung-Lizenz (CC BY 4.0) veröffentlicht. Erscheinungsdatum 19.12.2016*. [Erstveröffentlichung]

Die kleine hl. Therese vom Kinde Jesus gilt als ein Leitbild der zeitgenössischen Spiritualität. Pius X. hat sie „die größte Heilige der modernen Welt“ genannt. Ihre Heiligsprechung erfolgte 1925 durch Pius IX. Zwei Jahre später ernannte sie derselbe Papst zur Patronin der Weltmission, zusammen mit dem hl. Franz Xaver. Schließlich erklärte sie Papst Johannes Paul II. 1997 zur Kirchenlehrerin.

Die Tatsache, dass Therese schon im Lauf weniger Jahrzehnte einen weltweiten Einfluss ausüben konnte, wirft Fragen auf. Es stellt sich vor allem die Frage nach dem Geheimnis ihrer Heiligkeit sowie nach dem Kern ihrer Botschaft, die sich auch heute noch immer wieder als ein wirksames Heilmittel gegen die Hoffnungslosigkeit unserer Zeit erweist.

4.1 Wichtige Daten ihres Lebens

a) Kindheit in Alencon (1873-1877)
1873:
2. Januar: Geburt in Alencon.
4. Januar: Taufe.
1877 – vier Jahre:
28. August: Tod der Mutter.
15. November: Umzug nach Lisieux und Einzug in das neue Haus „Les Buissonnets“.
b) In den Buissonnets(1877-1888)
1881 – acht Jahre:
3. Oktober: Eintritt in das Halbinternat der Benediktinerinnenabtei.
1883 – zehn Jahre:
13. Mai, Pfingsten: Heilung durch das Lächeln der Muttergottes.
1884 – elf Jahre:
8. Mai: Erstkommunion.
14. Juni: Firmung.
1886 – dreizehn Jahre:
Heimkehr aus der Abteischule aus gesundheitlichen Gründen.
25. Dezember: das „Weihnachtswunder“.
1887 – vierzehn Jahre:
4. November – 2. Dezember: Reise nach Rom.
c) Im Karmel(1888-1897)
1888 – fünfzehn Jahre:
9. April: Eintritt in den Karmel.
1889 – sechzehn Jahre:
10. Januar: Einkleidung.
12. Februar: Herr Martin, Thereses Vater, kommt in die Anstalt in Caen.
1890 – siebzehn Jahre:
8. September: ewige Profess.
1893 – zwanzig Jahre:
20. Februar: Schwester Agnes (Pauline Martin) wird zur Priorin gewählt.
8. September: Therese bittet darum, endgültig im Noviziat bleiben zu dürfen.
1894 – einundzwanzig Jahre:
29. Juli: Tod des Vaters.
14. September: Eintritt von Céline Martin in den Karmel.
1895 – zweiundzwanzig Jahre:
9. Juni, Fest der Heiligsten Dreifaltigkeit: Hingabe an die Barmherzige Liebe.
1896 – dreiundzwanzig Jahre:
21. März: Wiederwahl von Mutter Marie de Gonzague zur Priorin.
3. April, Karfreitag: erster Blutsturz.
5. April, Ostern: Beginn der „Nacht des Glaubens“.
1897 – vierundzwanzig Jahre:
Anfang April: Therese wird schwer krank.
30. September: Therese stirbt als ein „Opfer der Liebe“.

4.2 Ereignisse der Gnade in der Kindheit

Therese macht schon von ihrer frühen Kindheit an auf uns den Eindruck eines zielgerichteten Menschen. „Schon in ganz jungen Jahren denkt Theresia, überlegt Theresia, urteilt Theresia und wählt Theresia mit der Sicherheit und der Ruhe eines klaren Gewissens ihren Lebensweg“.[1] Unter dem Einfluss der Gnade und ihrer familiären Umgebung wird sie schon sehr früh auf die Bahn der Heiligkeit gebracht, indem sie sich für ein Lebensideal entscheidet, das im Lauf ihrer inneren Entwicklung eine immer deutlichere Gestalt annimmt. Unter den Gnaden, die Therese innerlich umwandeln und sie sehr rasch zu einer erstaunlichen Reife und Weisheit führen, wollen wir einige näher beschreiben, um zu zeigen, wie Gott in ihrer Seele wirkt und sie zu einer der größten Heiligen unserer Epoche formt.

Der tiefste Einschnitt in der Kindheit von Therese ist der Tod ihrer Mutter. Sie braucht zehn Jahre, um diesen Verlust zu verwinden. Mit dem Umzug nach Lisieux 1877 beginnt in ihrem Leben der zweite Abschnitt. Sie bezeichnet ihn später als „den leidvollsten von den dreien“. Seit dem Tod ihrer Mutter verändert sich Therese. „Ich, die ich so lebhaft und mitteilsam war, wurde schüchtern und sanft, über die Maßen empfindlich“.[2] Sie wird darüber hinaus von Skrupeln geplagt. Ihre Krise verschlimmert sich, als sich ihre Schwester Pauline, die sie sich zur zweiten Mutter erkoren hat, 1882 entschließt, in den Karmel von Lisieux einzutreten. Therese weint „bittere Tränen“. Durch den Verlust von Pauline wird die Wunde des Todes der Mutter wieder aufgerissen, und Therese wird schwer krank.[3] Am 13. Mai 1883 (Pfingsten) wird Therese dadurch geheilt, dass ihr die Muttergottes erscheint und zulächelt. Durch das Lächeln der Jungfrau findet das zerquälte Kind in einem einzigen Augenblick den inneren Frieden wieder. Obwohl sie das Geheimnis vom Lächeln der Seligsten Jungfrau wahren will, erzählt sie ihrer Schwester Marie davon und leidet demzufolge an neuen Gewissenszweifeln. Außerdem bildet sie sich ein, gelogen zu haben. Ein weiterer Zweifel vermehrt ihre Seelenpein: Denn sie fragt sich, ob sie nicht absichtlich die Krankheit vorgetäuscht hat. Selbst ihr Beichtvater vermag sie nicht zu beruhigen. Mehrere Jahre hindurch wird sie von Schuldgefühlen gequält.

An Weihnachten 1886 findet ein Ereignis statt, das Therese als ihre „vollständige Bekehrung“ bezeichnet. Das sogenannte Weihnachtswunder bedeutet eine Wende in ihrem Leben, da ihre Überempfindlichkeit in einem Augenblick geheilt wird. Äußerlich betrachtet handelt es sich um eine banale Begebenheit. Nach der Weihnachtsmette kommt Herr Martin mit seinen Töchtern Céline und Therese nach Hause. Nun soll Therese zuliebe trotz ihres Alters von dreizehn Jahren noch einmal an einem alten Brauch festgehalten werden: Sie soll am Kamin aus ihren Schuhen kleine Geschenke hervorholen. Obwohl ihr Vater verstimmt ist und sich angesichts des Alters seiner Tochter missmutig über das Ritual mit den Schuhen äußert, fängt sich Therese in einem Akt der Selbstüberwindung, unterdrückt ihre Tränen und eilt die Treppe hinunter, um strahlend ihre Sachen auszupacken. Eine neue Kraft hat sie plötzlich erfüllt und ihr Herz verwandelt. Mit Recht erblickt Therese in dem Ereignis ein „kleines Wunder“.

„Der Liebe Gott mußte ein kleines Wunder wirken, um mich in einem Augenblick wachsen zu lassen, und er wirkte dieses Wunder am unvergeßlichen Weihnachtsfest … In jener Nacht, in der Er sich schwach und leidend machte aus Liebe zu mir, machte er mich stark und mutig. Er legte mir seine Waffenrüstung an, und seit jener gesegneten Nacht wurde ich in keinem Kampfe mehr besiegt … Therese war nicht mehr die gleiche … die kleine Therese hatte ihre Seelenstärke wiedergefunden, die sie im Alter von viereinhalb Jahren verloren hatte, und die sie sich nunmehr für immer bewahren sollte“[4]

Jesus hat ihre Seele umgewandelt, indem er ihr eine große innere Kraft und Festigkeit verlieh. In seiner Barmherzigkeit hat er sie aus dem Abgrund ihrer Ohnmacht befreit. Er hat ihr das starke, fröhliche Wesen, das sie durch den Tod der Mutter verloren hatte, wiedergegeben. „Ja, ich fühlte die Liebe in mein Herz einziehen, das Bedürfnis, mich selbst zu vergessen, um anderen Freude zu machen, und von da an war ich glücklich“[5]

Die Gnade des 25. Dezember 1886 eröffnet in ihrem Leben einen neuen Abschnitt. Es beginnt eine Phase, in der sie aufblüht und von einem Drang nach Wissen erfasst wird. Für „eine der größten Gnaden ihres Lebens“ hält sie die Lektüre eines Buches von Abbé Arminjon, Domherr von Chambéry: Fin du monde présent et mystères de la vie future. So empfindet sie bei den Ausführungen über die Glaubenswahrheiten und die Geheimnisse der Ewigkeit ein „überirdisches Glück“. Aber Therese erlebt nicht nur einen geistlichen Aufbruch durch die Vertiefung der Gotteserkenntnis und des innerlichen Lebens. Im Anschluss an die Weihnachtsgnade entdeckt sie den Eifer für das Heil der Seelen. Ein Ereignis im Juli 1887 bestärkt sie in dieser Ausrichtung. An einem Sonntag nach der Messe in der Kathedrale St. Pierre in Lisieux rutscht ein Bild von Jesus am Kreuz aus ihrem Gebetbuch heraus. Sogleich fällt ihr Blick auf das Blut, das aus einer seiner durchbohrten Hände herabrinnt. Sie ist zutiefst bewegt.

„Ich empfand tiefen Schmerz beim Gedanken, daß dies Blut zur Erde fiel, ohne daß jemand herzueilte, es aufzufangen. Ich beschloß, im Geiste meinen Standort am Fuße des Kreuzes zu nehmen, um den ihm entfließenden Göttlichen Tau aufzufangen, und begriff, daß ich ihn nachher über die Seelen ausgießen müsse … Der Schrei Jesu am Kreuz widerhallte ununterbrochen in meiner Seele: „Mich dürstet!“ Diese Worte entfachten in mir ein unbekanntes, heftiges Feuer … Ich wollte meinem Viel-Geliebten zu trinken geben und ich fühlte mich selbst vom Durst nach Seelen verzehrt …“[6]

Conrad de Meester bemerkt dazu: „Nun, da sie vielen Leuten begegnet, wächst die kontemplative Dimension ihres Lebens sprunghaft, selbst in ihrer Art, die Menschen zu sehen. Alles bei ihr strebt in eine einzige Richtung : Jesus“.[7] Es ist kein Zufall, wenn im Zusammenhang mit den eben beschriebenen Ereignissen von Kontemplation die Rede ist. Sowohl die Weihnachtsgnade als auch der Ruf Jesu am Kreuz zeigen, wie der Heilige Geist in ihr wirkt. Es sind Musterbeispiele für die umwandelnde Kraft seiner Gaben: Mit einem Schlag wird Therese durch die Gabe des Starkmutes von ihrer übermäßigen Empfindlichkeit befreit. Auf Grund der Gabe des Verstandes erstrahlen auf einmal die Glaubenswahrheiten in ihrem Herzen mit einer besonderen Leuchtkraft. Denn ihre Seele gelangt nach einer langen Zeit der Krise auf den Erleuchtungsweg und wird gleichsam in ein himmlisches Licht getaucht. Schließlich vernimmt sie in der Kathedrale unvermittelt den Ruf Jesu, Seelen zu retten. Daraufhin wächst in ihr das Verlangen nach der Rettung von Seelen Tag für Tag. Infolge der empfangenen Stärkungen und Erleuchtungen ist sie in ihrem Innersten schon ganz dem „Viel-Geliebten“ hingegeben. „Sie ist getragen von der Freude der Liebe: Ich bin Sein und Er ist mein“[8] Am liebsten möchte sie die Welt durcheilen, um überall das Evangelium zu verkünden. Aber sie wird bald erkennen, dass ihre missionarische Sehnsucht nur in der Liebe die Erfüllung finden kann.[9] „Im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein … so werde ich alles sein“.[10]

4.3 Der Kleine Weg

Ähnlich wie bei ihrer ersten Kommunion[11] am 8. Mai 1884 („der erste Kuss Jesu in meiner Seele“) hat Therese durch die Weihnachtsgnade eine geistige Umwandlung erfahren. Das schöne Jahr 1887 bedeutet infolge der ihr von Gott geschenkten Befreiung einen Aufbruch in ihrem Leben. Zu den besonderen Gnaden dieses Jahres gehören die geistlichen Gespräche mit ihrer Schwester Céline. „Wie lieblich waren die Gespräche, die wir jeden Abend im Belvedere führten! … Mir scheint, daß wir Gnaden von so hohem Range erhielten, wie sie den großen Heiligen zuteil werden … Ein Zweifel war nicht möglich, schon waren Glaube und Hoffnung nicht mehr nötig, die Liebe ließ uns Jenen, den wir suchten, auf Erden finden“.[12] Wer in solcher Weise erleuchtet wird, muss sich zu einem Leben der totalen Hingabe an Gott gleichsam gedrängt fühlen.

4.3.1 Wüste und Sand

Am 9. April 1888 verlässt sie die Buissonnets und tritt in den Karmel ein. Sie trägt die Flamme der Hingabe in ihrem Herzen. Sie „will nur noch für ihn leben“ und wünscht sich, „immer für Jesus zu leiden“.[13] Das harte Leben im Kloster sagt ihr zu, und sie fühlt sich von Anfang an wohl. Schon bald erkennt sie, dass der Herr sie auf den Weg des Kreuzes führen will. Sie ist bereit, diesen Weg zu gehen: „Ich fand das Klosterleben so , wie ich es mir vorgestellt hatte; kein Opfer überraschte mich“.[14]

„Das neunmonatige Postulat von Thérèse scheint eine besondere Prüfungszeit gewesen zu sein; eine wahre Überdosis von Widerwärtigkeiten aller Art bricht über sie herein“.[15] Ihr Weg wird zu einer Durchquerung der Wüste. Was sie am meisten läutert, sind nicht die äußeren Lebensumstände wie etwa die knappe Nachtruhe oder die Kälte, unter der sie im Winter sehr zu leiden hat. Das innere Leid ist größer. Zum einen profitiert sie enorm von den anderen Schwestern und ihren Erfahrungen. Andererseits gibt es die zahlreichen Schwierigkeiten, die mit dem Gemeinschaftsleben verbunden sind. In einer vom Jansenismus geprägten Atmosphäre muss sie ihr eigenes Konzept finden, um ihre kontemplative Berufung leben zu können. Dazu tragen auch so manche Auseinandersetzungen mit jansenistisch inspirierten Schwestern bei, die in ihrem Gottesbild den Hauptakzent auf die Gerechtigkeit und Strenge legen. Therese muss erst selber die barmherzige Liebe Gottes entdecken, um später andere in dieses grundlegende Geheimnis des Evangeliums einführen zu können.[16] „Denn in der erbarmenden Liebe Gottes zu uns Sündern und in der Antwort auf diese Liebe … entdecken auch wir den Kleinen Weg, auf dem wir Gott so lieben sollen, wie Theresia ihn geliebt hat“.[17]

Wann taucht zum ersten Mal die Idee der Kleinheit als spirituelles Leitmotiv in ihren Gedanken auf? Ihr innigster Wunsch ist doch vielmehr „eine große Heilige“ zu werden. In den ersten Jahren im Karmel, die ihr wie eine Wanderung durch die Wüste erscheinen, entdeckt sie die Symbolik des Sandkorns. Sie wählt bewusst den Weg durch die Wüste, weil er der kürzeste ist. Belehrt durch ihren geistlichen Vater, den hl. Johannes vom Kreuz, weiß sie, dass man nur durch das Nichts zum Alles gelangt.[18] „Es gibt nichts außer Jesus, der ist ; alles Übrige ist nicht … Lieben wir ihn also bis zur Torheit, retten wir für ihn Seelen … Denn unsere Sendung ist es, uns zu vergessen , zu nichts zu werden … Wir sind so gering“.[19] Sandkorn sein heißt also gering sein, zurückgezogen, arm, unbeachtet, gleichsam anonym. Es ist ein Symbol für das verborgene Leben im Kloster. Therese möchte nicht nur von den anderen übergangen werden, sondern vor allem sich selbst vergessen, damit Jesus ihr Alles sei. „Jesus, sei mein Alles!“, betet sie am Tag ihrer Profess. Ihr Wunsch, klein zu werden, wird immer radikaler, denn das Kleinsein begünstigt die Entfaltung der Liebe. „Das Sandkorn will sich ans Werk machen, ohne Freude , ohne Mut , ohne Kraft , und alle diese Eigenschaften werden ihm das Unternehmen erleichtern. Es will sich mühen aus Liebe“. [20]

Klein sein heißt für Therese vor allem das eigene Nichts erkennen und damit die radikale Abhängigkeit von Gott als unserem Vater und Erlöser. Es geht also um eine grundlegende Haltung des christlichen Lebens, die der gläubige Mensch, insofern er Kind Gottes ist, nie verlassen darf. Ihre „Lehre von der Demut auf dem Kleinen Weg ist keine andere als die des Evangeliums“.[21] So schreibt sie ihrer Schwester Marie über das Kleinsein und die Armut im Geiste:

„Verstehen Sie: Wenn man Jesus lieben, sein Opfer der Liebe sein will – je schwächer man ist, ohne Wünsche, ohne Tugenden, um so eher ist man geeignet für das Wirken dieser verzehrenden und umwandelnden Liebe. … Schon allein der Wunsch, Opfer zu sein, genügt. Aber man muss einwilligen, immer arm und kraftlos zu bleiben, und das ist schwer, denn: „Den Armen im Geiste, wo soll man ihn finden, man muss ihn weit suchen“, sagt der Psalmist … Er sagt nicht, man müsse ihn unter den großen Seelen suchen, sondern „weit“, d. h. in der Niedrigkeit, im Nichts … Ah! bleiben wir also weit weg von allem, was glänzt, lieben wir unsere Kleinheit, lieben wir es, nichts zu fühlen, dann werden wir arm sein im Geist, und Jesus kommt, uns zu holen, so weit wir auch entfernt sein mögen, und wandelt uns um zu Flammen der Liebe …“.[22]

Allerdings bekommt das Kleinsein für Schwester Therese im Lauf der Jahre eine tiefere Bedeutung, die über die Demut hinausgeht. Es wird von ihr immer mehr als die vertrauensvolle „Hoffnung eines Kindes gegenüber seinem Vater“ verstanden.[23] Das Kleinsein „wird nicht mehr unmittelbar in Verbindung mit der Gottesliebe, die Thérèse anstrebt, gebracht werden, sondern vielmehr mit der barmherzigen Liebe Gottes zu ihr, einer Liebe, die sie empfängt“.[24] Dieses Umdenken ist nicht zuletzt die Folge der inneren und äußeren Kämpfe, die sie im Kloster durchzustehen hat. Sie muss einige Jahre hindurch ringen, immer wieder ihre innere Einstellung ändern, bis ihr gegen Ende 1894 durch die endgültige Entdeckung des Kleinen Weges der entscheidende Durchbruch gelingt. „Da erfährt sie, dass der Herr sie auf Seinen Armen trägt und zum Gipfel emporhebt“.[25]

4.3.2 Die Erfahrung der eigenen Ohnmacht

In ihrer Kindheit und Jugend wird Therese von der Vorstellung geleitet, dass die Heiligkeit von ihren Anstrengungen und Opfern abhängt, also von ihr selbst. Man muss sie gewissermaßen erkämpfen. Diese Betonung der eigenen Aktivität ist zunächst nicht abwegig, sondern der geistlichen Entwicklung förderlich, zumal die Askese der Mystik vorausgeht sowie die aktive Liebe der passiven. Als Kind von Kaufleuten wächst sie in einem unternehmerischen Milieu auf; das Denken von Geschäftsleuten ist ihr vertraut. So ist es nicht verwunderlich, dass Therese entsprechend ihrer strebsamen Veranlagung geistliche Schätze „sammelt“ durch viele gute Werke, durch Gebete, Opfer, Übungen sowie Treue in den kleinsten Dingen. Sie will sich durch Fleiß und Beharrlichkeit ihre Krone gestalten. Erst nach vielen Prüfungen beginnt sie zu begreifen, dass Gott sie nicht auf Grund ihrer Leistungen annimmt, sondern auf Grund seiner Barmherzigkeit.

Neben den oft schwierigen zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt sie besonders die beiden täglichen Stunden der Betrachtung als bedrückend. Sie schläft nicht selten dabei ein, „die Trockenheit war mein tägliches Brot“.[26] Nicht besser ergeht es ihr, wenn Einkehrtage oder Exerzitien stattfinden. „Bis zu ihrem Lebensende bleibt die Trockenheit der Leitgedanke, wenn es sich darum handelt, ihre Betrachtung zu bewerten. Das gilt aber nicht nur für das betrachtende Gebet, sondern auch für ihre Danksagungen nach der heiligen Kommunion“.[27] Schließlich gerät sie unter einen schweren Leidensdruck, als sich die Krankheit ihres Vaters verschlimmert, der im Februar 1889 auf Grund von Wahnvorstellungen in eine psychiatrische Anstalt in Caen eingeliefert wird. Sie reift im Schmelzofen einer zunehmenden Trostlosigkeit. Durch dieses Kreuz, das sie einige Jahre lang zu tragen hat, wächst sie nach und nach in der Loslösung, im Vertrauen und in der Hingabe. Vor Ablegung ihrer Gelübde am 8. September 1890 schreibt sie in einem Brief an ihre Schwester Pauline über ihren Zustand:

„Aber die kleine Einsiedlerin muss Ihnen ihren Reiseweg angeben. Hier ist er: Vor der Abreise schien ihr Verlobter sie zu fragen, in welches Land sie reisen und welchen Weg sie einschlagen wolle usw. usw. … Die kleine Braut erwiderte, sie habe nur einen Wunsch: den Gipfel des Berges der Liebe zu ersteigen. Es boten sich ihr viele Wege an, um dorthin zu gelangen. Es gab darunter so viele vollkommene Wege, dass sie sich außerstande sah zu wählen. So sagte sie zu ihrem göttlichen Führer: „Du weißt, wohin ich gehen will, Du weißt, für wen ich den Berg ersteigen will, für wen ich am Ziel ankommen will. Du weißt, wen ich liebe und wen ich allein zufriedenstellen will. Für ihn allein unternehme ich diese Reise. Führe mich also auf den Wegen, die er gerne geht. Wenn nur Er zufrieden ist, dann bin ich vollauf glücklich.“ Da nahm Jesus mich bei der Hand; Er ließ mich in einen unterirdischen Gang eintreten, wo es weder kalt noch warm ist, wohin kein Sonnenstrahl dringt, weder Regen noch Wind. Ein unterirdischer Gang, wo ich nur gedämpftes Licht sehe, das Licht, das die gesenkten Augen im Antlitz meines Verlobten ausstrahlen! … Mein Verlobter sagt nichts zu mir, und ich sage nichts zu ihm, außer dass ich ihn mehr liebe als mich selbst, und im Grunde meines Herzens spüre ich, dass das wahr ist, denn ich gehöre mehr Ihm als mir! … Ich sehe nicht, dass wir zur Bergspitze voranschreiten, weil unsere Reise unterirdisch vor sich geht, und dennoch scheint es mir, dass wir uns ihr nähern, ohne zu wissen, wie. Der Weg, dem ich folge, hat keinerlei Trost für mich, und dennoch bringt er mir allen Trost, weil Jesus ihn ausgewählt hat und ich das Verlangen habe, ihn allein zu trösten, ihn allein!“[28]

Die vielen Leiden und besonders die Prüfung von Caen zwingen Therese zu Kurskorrekturen. Schon seit Beginn ihres Lebens im Kloster ist die Erfahrung der eigenen Schwäche Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Sie betrachtet ihr Unvermögen zunächst als eine Chance für ein Wachstum in der Liebe.[29] Je elender sie sich selbst sieht, desto mehr will sie ihre Aufmerksamkeit dem Herrn schenken. Ihre kräftezehrenden Bemühungen, die eigenen Fehler in Liebe zu Jesus umzuwandeln, führen zur Erschöpfung und spätestens seit 1893 zu einer neuen Haltung der Hingabe. Das Leid wird nunmehr in einem anderen Licht gesehen. Sie will sich nun Jesus überlassen, ihm Freude machen als ein Ball in seiner Hand. „Mein Seelenführer ist Jesus; Er lehrt mich nicht, meine Tugendakte zu zählen. Er lehrt mich, alles aus Liebe zu tun, Ihm nichts zu verweigern, zufrieden zu sein, wenn Er mir eine Gelegenheit gibt, Ihm meine Liebe zu beweisen. Dies aber geschieht im Frieden, in der Hingabe. Jesus tut alles, und ich tue nichts“.[30] Was ihr ständig vor Augen steht, ist nicht mehr so sehr das eigene Versagen, sondern die Größe der verzeihenden Liebe Gottes. So schreibt sie wenige Monate vor ihrem Tod:

„Ach! wenn ich an meine Noviziatszeit zurückdenke, so sehe ich gar deutlich, wie unvollkommen ich war … Ich machte mir Sorgen um solche Kleinigkeiten, daß ich jetzt darüber lache. Oh! Wie gut ist der Herr, daß er meine Seele wachsen ließ, ihr Flügel verlieh … Später wird mir zweifellos auch meine jetzige Zeit voller Unvollkommenheiten erscheinen; doch ich wundere mich jetzt über nichts mehr, ich betrübe mich nicht, wenn ich sehe, daß ich die Schwäche selbst bin; im Gegenteil, ich rühme mich ihrer und mache mich jeden Tag darauf gefaßt, neue Unvollkommenheiten in mir zu entdecken.“[31]

Ihr Vertrauen zum Herrn wächst, je mehr sie ihr Elend erkennt. „Ich fühle, wenn du eine schwächere, eine kleinere Seele fändest als die meine, was zwar unmöglich scheint, so hättest du dein Wohlgefallen daran, sie mit noch größeren Gnaden zu überhäufen, wenn sie sich nur mit vollem Vertrauen deiner unendlichen Barmherzigkeit überließe“.[32] Sie weiß: Er ist der Seelenführer, der sie auf die Spitze des Berges führt. Doch der Weg bleibt zunächst noch im Dunkeln.

4.3.3 Die Entdeckung des Kleinen Weges

Das Bewusstsein ihrer Kleinheit hindert sie nicht daran, heilig werden zu wollen. Denn sie ist in Anlehnung an ein Wort von Johannes vom Kreuz davon überzeugt, dass Gott uns keine unerfüllbaren Wünsche eingibt. Wie aber soll sie trotz ihres Unvermögens das Ziel erreichen? Die Erfahrung der eigenen Schwäche lässt die Karmelitin für das Wirken Gottes empfänglicher werden. Sie muss es lernen, den Weg der vollkommenen Hingabe zu gehen. Was sie selber nicht vermag, muss Jesus in ihr vollbringen. Dazu ist es nötig, sich ihm ganz zu überlassen, sich ihm in jeder Hinsicht anzuvertrauen und in einem schmerzhaften Prozess der Entäußerung das Loslassen zu lernen.

Seit der Wahl ihrer Schwester Pauline zur Priorin im Februar 1893 fliegt sie dahin „auf den Wegen der Liebe“. Schon ein Jahr zuvor schreibt sie Céline die folgenden Zeilen:

„Wie, Jesus sagt, wir sollen hinabsteigen … Wohin sollen wir denn herabsteigen? … Das ist es, wohin wir hinabsteigen müssen, um Jesus als Wohnung dienen zu können. So arm sein, dass wir nichts haben, wohin wir unser Haupt legen … Lassen wir ihn jetzt handeln. Er weiß, wie er sein Werk in unseren Seelen vollendet … Jesus wünscht, dass wir ihn in unseren Herzen empfangen. Zweifellos sind sie bereits leer von den Geschöpfen, aber leider fühle ich, dass meines noch nicht ganz leer von mir selbst ist, und deshalb sagt Jesus zu mir, ich soll hinabsteigen …“ [33]

Der Weg Thereses zeigt besonders deutlich, wie das Leben mit Gott ein ständiger Dialog ist, wie Ideale sich wandeln, neue Sichtweisen entstehen. Dementsprechend ändert sich auch die Redeweise. Seit dem Sommer 1893 verwendet sie in ihren Schriften öfter das Verb abandon (sich hingeben, sich fallen lassen).[34] Allmählich wird die Hingabe in ihrem Leben zu einer Grundhaltung, die alles umfasst. Auch wenn sie nach wie vor darauf bedacht ist, viel zu lieben, so findet doch in ihrer Beziehung zu Gott eine Verlagerung statt, insofern sie gelassener wird und immer mehr auf Gottes Hilfe baut. „Ich verliere nie den Mut. Ich überlasse mich ganz den Armen Jesu“.[35]

Die innere Entwicklung der Heiligen von Lisieux nähert sich ihrem Höhepunkt. Im Herbst des Jahres 1894 findet sie ihren kleinen, ganz neuen Weg. Pauline, die als Priorin Mutter Agnes genannt wird, wird ihn später als den „Weg der geistigen Kindschaft“ bezeichnen. Doch geht der bahnbrechenden Erkenntnis des Kleinen Weges eine andere Entdeckung voraus. „Denn das ist die große, die entscheidende Entdeckung ihres Klosterlebens: die Heilige Schrift“.[36] Auch Céline ist der Meinung, dass die Bibel „der größte Schatz“ ist, den ihre Schwester im Karmel gefunden hat. In der Tat entwickelt Therese im Lauf ihrer Jahre im Kloster eine erstaunliche Vertrautheit mit der Heiligen Schrift, die zur Grundlage ihres geistlichen Lebens wird. „Das Evangelium aber vor allem andern gibt mir das Nötige für das innere Gebet, in ihm finde ich alles, was meine arme kleine Seele braucht. In ihm entdecke ich immer neue Klarheiten, verborgene und geheimnisvolle Bedeutungen“.[37] So ist es nicht verwunderlich, dass das meditierende Lesen einiger Bibelstellen entscheidend zur Erkenntnis des Kleinen Weges beigetragen hat.

Bei der Lektüre kreisen ihre Gedanken um die zentralen Themen ihrer Spiritualität: das Kleinsein, die Armut, die Demut, die Barmherzigkeit Gottes, das Vertrauen. Sie ist auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie sie trotz ihrer Schwäche heilig werden, d.h. den Gipfel der Vollkommenheit erreichen kann. Dabei kommt ihr in den Sinn, dass sie während ihrer Reise in Italien einige Male Aufzüge benützt hat, die sie im Nu bis zur obersten Etage eines Gebäudes bringen konnten. Gibt es nicht auch im geistlichen Leben so etwas wie einen Lift, der sie nach oben tragen kann? Besonders berührt wird sie auf ihrer Suche nach dem geistigen Lift von zwei Stellen aus dem Alten Testament. Zunächst fühlt sie sich von einem Wort über das Kleinsein angesprochen. Es handelt sich um den vierten Vers des neunten Kapitels des Buches der Sprichwörter: „Ist jemand ganz klein, dann komme er zu mir.“ Was aber wird Gott tun mit all den Kleinen, die sich vertrauensvoll an ihn wenden? Die überwältigende Antwort auf diese Frage findet sie in einer Stelle aus dem Buch Jesaja: „Wie eine Mutter ihr Kind liebkost, so will ich euch trösten; an meiner Brust will ich euch tragen und auf meinen Knien euch wiegen“ (Jes 66, 13.12). Therese ist nun überglücklich. Endlich hat sie den Fahrstuhl, den sie suchte, gefunden. In den Armen Jesu erblickt sie den Lift, der sie zum Gipfel der Heiligkeit tragen wird. „Sie zieht die Folgerungen aus dieser wunderbaren Wahrheit: Um in die Arme Gottes getragen zu werden, muss man nicht nur klein bleiben, sondern es mehr und mehr werden! … Da sprudelt eine tiefe Danksagung aus ihrem Herzen empor: O mein Gott, du hast meine Erwartungen übertroffen, und ich, ich will deine Erbarmungen besingen … Man muss mit Kühnheit voranschreiten, wie Petrus auf dem See von Tiberias, auf den Fluten des Vertrauens und der Liebe. Gerade die Kleinheit Thereses und ihr Unvermögen werden zum Grund ihrer Freude, denn sie sind der Ort, wo die erbarmende Liebe wirksam ist“.[38] Therese beginnt nun zu verstehen, dass sie heilig werden kann, und zwar nicht trotz ihres Unvermögens, sondern gerade auf Grund ihrer Kleinheit und Schwäche. Diese überraschende Einsicht ist für sie selber ein Durchbruch und wird von einigen Autoren als eine Revolution in der Geschichte der Spiritualität angesehen.

Ist der Kleine Weg wirklich neu? Nach Thereses eigenen Worten ist er durchaus etwas ganz Neues. Damit stellt sich die Frage, worin die revolutionäre Neuheit ihrer Spiritualität zu sehen ist. Denn schon in der Mystik des Oratoriums, in den Schriften von Kardinal Bérulle und Condren findet man eine ausgeprägte Spiritualität des Kindseins in Gott. Es besteht also zweifellos eine gewisse Verwandtschaft der Heiligen mit der Tradition des französischen Oratoriums.[39] Nichtsdestoweniger besteht sie auf der Originalität ihrer Lehre. „Jesus ganz allein hat mich unterwiesen, nicht ein einziges Buch, nicht ein Theologe hat mich belehrt.“ Therese und der kleine Kreis ihrer Schülerinnen im Kloster von Lisieux fühlen sich durchaus als Pioniere.

Für die hl. Therese vom Kinde Jesus ist es eine umwerfende Offenbarung, als sie erkennen darf, dass Gott sie liebt wie eine Mutter ihr Kind.[40] Das liegt zum Teil am frühen Verlust ihrer Mutter, der ein Trauma bewirkte, das auch ihre Ersatzmutter Pauline nicht wesentlich lindern konnte, da diese bald nach dem Tod der Mutter in den Karmel eintrat. Die Entdeckung der göttlichen Barmherzigkeit ist deshalb für Therese eine Intuition von existentieller Tragweite, und die mütterliche Liebe Gottes wird nunmehr die Sonne ihres Lebens. Die Tiefe dieser von Gott geschenkten Erfahrung sowie ihre befreiende Kraft erklären letztlich auch, warum ihre prophetische Sendung bis auf den heutigen Tag eine so große Ausstrahlung haben konnte.

„Laut Thérèses eigener Erklärung bezieht sich ihre große Entdeckung auf Gott. Es ist die Entdeckung Seiner Barmherzigkeit als dem Inbegriff der Barmherzigkeit schlechthin. Natürlich wusste sie auch vorher schon um seine Güte, und wie sehr sie ihr zu Hilfe kommt. Nun erkennt sie, dass die Liebe Gottes nicht nur reell, zuvorkommend und treu ist, sondern dass diese Liebe auch herabsteigt; dass sie sucht, was klein ist, WEIL es klein ist; damit sie es mit ihren Gütern beschenken kann. Thérèse entdeckt die Barmherzigkeit Gottes als die Quelle, aus der ihr ganzes Leben hervorströmt“.[41]

Die Erkenntnis und frohe Annahme des eigenen Nichts macht den Menschen für Gott und seine Gabe empfänglich. Deshalb kann die Mutter Gottes auf Grund ihrer Demut und Offenheit für die Gnade als die kleine Seele par excellence bezeichnet werden.

„Zu dieser Haltung der Demut kommt man, wenn man sich aufrichtig betrachtet, so wie man ist und so wie man von Gott geliebt ist. Bei einer Vertiefung dieser Haltung gelangen wir vor Gott zu einer blinden Hingabebereitschaft … Dies ist der Kern dessen, was Thérèse intuitiv erfasst hat, als sie ihren „kleinen Weg“ entdeckt hat. Sie nennt ihn „ganz neu“, da sich nach einem langen und mühsamen Marsch durch den dunklen Wald und das Dickicht nun vor ihr ein gerader und lichter Weg auftut, den sie ohne Zögern und ohne Furcht vor einem Irrtum sofort einschlägt. Ganz neu ist dieser kleine Weg auch deshalb, weil er sich über die Epoche des Jansenismus hinwegsetzt und die Menschen direkt mit Jesus verbindet …“[42]

Wie leicht verfängt sich ein Mensch im „Dickicht“ der irdischen Dinge und verirrt sich im „dunklen Wald“ der Verfinsterung des Gottesbildes. Dabei streckt Jesus seine Arme nach uns aus, um uns an sich zu ziehen. Der kleine, gerade Weg, der uns zum Ziel bringt, der Lift, der uns nach oben trägt, sind die Arme Jesu. Therese, die – geleitet vom Heiligen Geist – selber dem Netz des Jägers entronnen ist, erkennt ihre Berufung, etwas dazu beizutragen, dass auch andere die „so unbegreifliche Liebe“ des Herrn in den Blick bekommen. Sie will über ihren eigenen Tod hinaus den Seelen ihren Kleinen Weg „schenken“ und „alle Menschen Gott lieben lehren, wie sie selbst ihn liebt“.[43] Ist ihr „Weg des Vertrauens und der restlosen Hingabe“ für alle Menschen bestimmt? Zweifellos steht er auf Grund seiner Übereinstimmung mit dem Evangelium allen offen, und viele fühlen sich gedrängt, der kleinen hl. Therese nachzueifern. Am meisten freilich wird jemand für ihre Lehre empfänglich sein, der – vom Heiligen Geist über sein Nichts erleuchtet – zu jenen Ganzkleinen gehört, die Gott ruft, „um sie in seine Arme zu schließen und mit Liebkosungen zu überhäufen. Er selbst kommt ihnen entgegen und macht sich alle Mühen um sie … dann ist es wirklich nicht mehr nötig, zu wachsen, um zu ihm zu gelangen. Das Kleinbleiben ist sogar eine Notwendigkeit, um diese Berufung, um diese Vorzugsbehandlung genießen zu können. Ja, man muß es immer mehr werden“.[44] In dem „Aufzug“, d.h. in den Armen Jesu ist auch Platz für die Unvollkommenen und die Sünder:

„Und die Sünder? Wenn man nicht begreift, dass vor allem diese ein Anrecht auf den „Kleinen Weg“ haben, dann hat man die Theresia zuteil gewordene Erleuchtung überhaupt nicht erfaßt. Sie besitzen dieses Anrecht, weil sie gar nichts haben, was sie Gott anbieten können; nichts, worauf sie sich zu stützen vermögen – nichts, als die Barmherzigkeit Gottes … für alle jene, die gesündigt haben, ist der Gott des Evangeliums kein Richter: er ist vielmehr ein Schmelzofen unendlicher Liebe, der in einem einzigen Augenblick verzeiht, erneuert und heiligt. Im Lichte des Evangeliums ist jeder Sünder ein Heiliger, der sich selbst kennt. Möge der Sünder doch erkennen, daß er niemals verlassen ist! … Möge er darin einwilligen, geliebt zu werden“[45]

4.3.4 Die Hingabe an die Barmherzige Liebe

1895 ist für Therese vom Kinde Jesus und vom Heiligen Antlitz das vielleicht schönste Jahr in ihrem Leben. Sie – die „ganz Kleine“ - sieht nun „alles in einen Ozean göttlichen Erbarmens getaucht“[46] Frischer Wind kommt in ihre Segel, sie fährt auf den Fluten der Gnade dahin. Infolge ihrer neuen Sicht der Wirklichkeit fallen alle Sorgen von ihr ab. „Jesus will uns den Himmel aus purer Gnade schenken.“ Sie weiß, dass die überströmende Güte Gottes so oft vergeblich auf eine vertrauensvolle Antwort der Menschen wartet. Daher erblickt sie ihre vorrangige Aufgabe darin, sich ganz der göttlichen Barmherzigkeit zu öffnen, sich ihr gleichsam als Opfer anzubieten. „Von seiner Liebe will ich in Brand gesetzt sein.“ Die göttliche Liebe soll sie ganz und gar verzehren, damit die heimatlose Liebe Jesu nicht mehr durch eine allgemeine Ablehnung blockiert wird, sondern in die Herzen der Menschen eindringen kann.

Am 9. Juni 1895, dem Fest der Heiligsten Dreifaltigkeit, empfängt sie in der Frühe des Tages die Gnade, „klarer denn je zu erkennen, wie sehr Jesus sich danach sehnt, geliebt zu werden“.[47] Therese, die schon als Kind stets darauf bedacht war, ihren Vielgeliebten zu erfreuen, wird durch die Erleuchtung vom 9. Juni dazu gebracht, ihren Kleinen Weg konsequent zu Ende zu denken. Sie will dem Verlangen Jesu entsprechen. Dabei kommt ihr die großmütige Hingabebereitschaft jener Heiligen in den Sinn, die sich der göttlichen Gerechtigkeit als Opfer dargebracht haben. Obgleich sie den Heroismus solcher Seelen anerkennt und sich selber gedrängt fühlt, sühnend einzugreifen, kann sie sich diese Haltung der Hingabe nicht in jeder Hinsicht zu eigen machen. Vielmehr vollzieht sie eine theologische Umorientierung von der Gerechtigkeit Gottes zur Barmherzigkeit[48], indem sie erkennt, dass das gleiche Angebot der Aufopferung auch vor der göttlichen Liebe möglich ist. Auch an dieser Stelle leuchtet die Originalität des Kleinen Weges auf. Mit ihrer Stellungnahme zum traditionellen Sühneverständnis bewegt sich die Kirchenlehrerin tatsächlich auf einem bislang unbekannten Weg.

„O mein Gott, rief ich aus Herzensgrund, soll denn nur deine Gerechtigkeit Seelen empfangen, die sich als Schlachtopfer darbringen? … Bedarf denn deine Erbarmende Liebe ihrer nicht ebenso? … Von allen Seiten wird sie verkannt, verworfen; die Herzen, an die du sie verschwenden möchtest, kehren sich den Geschöpfen zu und erbetteln von ihrer erbärmlichen Zuneigung das Glück, statt sich in deine Arme zu werfen und deine unendliche Liebe anzunehmen … O mein Gott! soll deine verschmähte Liebe nunmehr in deinem Herzen verbleiben? Fändest du Seelen, die sich deiner Liebe als Ganz-Brandopfer darböten, ich meine, du würdest sie schnell verzehren; mir scheint, du wärest glücklich, die Fluten unendlicher Zärtlichkeit, die in dir sind, nicht länger zurückzudrängen … O mein Jesus, laß mich dies glückliche Opfer sein, verzehre dein Brandopfer mit dem Feuer deiner Göttlichen Liebe! …“[49]

Angesichts der Gleichgültigkeit von Seiten der Menschen sieht sich Jesus gezwungen, „die Fluten unendlicher Zärtlichkeit“, die in ihm sind, zurückzudrängen. Das Wort „Zärtlichkeit“ (tendresse) ist ein Schlüsselbegriff in ihren Überlegungen. „Genau im Lichte dieses Wortes und der von ihm bezeichneten Wirklichkeit tut die ‚kleine‘ Karmelitin von Lisieux den Überschritt von der Gerechtigkeit zur Liebe“.[50] Was die junge Kontemplative motiviert, sich Jesus ohne Vorbehalte zu schenken, ist nicht die Furcht vor einem gerechten Gott, der die Menschen nach ihren Werken richtet. Sie ist vielmehr überwältigt von seiner zärtlichen Liebe, die sich herabneigt und gerade einen schwachen Menschen wie sie als Werkzeug seiner Barmherzigkeit auserkoren hat. „Ich bin nur ein Kind, ein schwaches, ohnmächtiges, aber gerade meine Ohnmacht verleiht mir die Kühnheit, mich deiner Liebe, o Jesus, als Opfer anzubieten! Einstmals nahm der Starke und Mächtige Gott nur reine, makellose Opfer an … aber dem Gesetz der Furcht folgte das Gesetz der Liebe, und die Liebe hat mich schwaches, unvollkommenes Geschöpf als Brandopfer erwählt“.[51] Sie will mit ihrem Opfer dazu beitragen, dass die Barmherzige Liebe Gottes verstanden und angenommen wird. „Für Therese geht es nicht darum, Strafen auf sich zu lenken, sondern darum, sich selbst von der göttlichen Zärtlichkeit anziehen zu lassen. Jesus will nicht seine Gerechtigkeit entladen, sondern uns mit dem Feuer Seiner Liebe verzehren“.[52] Etwa acht Monate nach ihrer Entdeckung des Kleinen Weges betritt sie in einem Akt der Hingabe den Aufzug der Barmherzigen Liebe und lässt sich nach oben ziehen. „Um in einem Akt der vollkommenen Liebe zu leben“, weiht sie sich der Barmherzigen Liebe als Ganz-Brandopfer. Sie lebt nun in der ständigen Umarmung Gottes, sie lässt Jesus in ihr leben, sie lebt „aus Liebe“. Er will, dass sie ihn „bis zum Wahnsinn“ liebt.[53]

4.4 War Therese eine Mystikerin?

Der Akt der Hingabe der hl. Therese an die barmherzige Liebe kann als der Höhepunkt ihres Lebens und als Wendepunkt in der christlichen Spiritualität angesehen werden. Ihre Hingabe gründet auf der Einsicht, dass der Gott des christlichen Glaubens ein Gott der Liebe ist und sich im Evangelium als dreifaltige Liebe geoffenbart hat. Diese Liebe will sie total in sich aufnehmen und ihr den Weg in die Herzen der Menschen bahnen. Dass sie eine Mystikerin und eine große Kontemplative war, wird in den auf den Hingabeakt folgenden Monaten besonders deutlich. „Diese Periode im Leben von Thérèse trägt eindeutig mystische Charakterzüge“.[54] Sie spricht davon, dass „Ströme oder vielmehr Ozeane von Gnaden“ ihre Seele überfluten. Ihr scheint, dass die göttliche Liebe sie ganz und gar durchdringt und umgibt, dass sie von Erleuchtungen überströmt wird. Jesus lebt und wirkt in ihr, alles empfängt sie als Geschenk aus seiner Hand. Seine Gegenwart ist gleichsam erfahrbar für sie: „Ich fühle, dass Er in mir ist, jeden Augenblick, Er leitet mich und gibt mir ein, was ich sagen oder tun soll“.[55] Schon die göttliche Annahme und Bestätigung ihrer Hingabe an die barmherzige Liebe ist ein mystisches Ereignis. Einige Tage nach ihrem Weiheakt beginnt sie im Chor privat den Kreuzweg zu beten:

„Da wurde ich plötzlich von einer so heftigen Liebe für den lieben Gott ergriffen, daß ich nur sagen kann, es war, als hätte man mich ganz und gar in Feuer getaucht. Oh! Welch eine Glut und zugleich welch eine Süßigkeit! Ich brannte vor Liebe, und ich fühlte, daß ich diese Glut nicht eine Minute, nicht eine Sekunde länger hätte ertragen können, ohne zu sterben. Damals habe ich verstanden, was die Heiligen von diesen Zuständen sagen, die sie so oft erfahren haben. Ich habe das nur ein einziges Mal erfahren und nur einen Augenblick lang, dann bin ich sogleich in meine gewohnte Trockenheit zurückgefallen“.[56]

Auch wenn sie in ihrem Leben den Herrn oft darum gebeten hat, „sie in die Flammen seiner Liebe hineinzuziehen“, so ist doch zu bemerken, dass sie im Gegensatz zu den „Heiligen“ - wie sie selbst sagt – nur ein einziges Mal ein solches Brennen vor Liebesglut erfahren hat. Kennzeichnend für ihr eigenes geistliches Leben ist eher ihre „gewohnte Trockenheit“. Sicher gab es auf ihrem inneren Weg auch einige außergewöhnliche mystische Gnaden. Doch solche speziellen Gnadenerweise gehören nicht zu den charakteristischen Merkmalen ihrer Mystik. Sie sind dem Kleinen Weg eher fremd. Der Kleine Weg der geistigen Kindheit zeichnet sich durch andere Merkmale aus: Es geht vor allem um vertrauende Liebe und um die frohe Annahme des eigenen Nichts. Eine „kleine Seele“ lässt sich durch nichts entmutigen, denn sie erwartet alles von Gott, der die Armen mit Gütern überschüttet. Sie wirft sich in seine Arme und lässt ihn handeln. Selber hat sie nichts anderes zu tun als ihm Blumen des Opfers und der Liebe anzubieten, um ihn zu erfreuen. Doch ist der Kleine Weg nicht nur ein Weg des Vertrauens, sondern auch der völligen Hingabe. Wer sich Gott restlos schenkt, wächst immer tiefer hinein in eine innige Verbundenheit mit ihm. Therese erreicht die unio, die Einheit mit ihrem göttlichen Bräutigam, durch die vollendete Liebe. Sie gelangt zum Ziel auf dem Weg der Gleichförmigkeit bis zu dem Punkt, dass jeder Eigen-Sinn, jede von Gott unabhängige Eigentätigkeit in ihr erlischt.

Auf den verschiedenen Etappen ihres Weges wird deutlich, wie der Heilige Geist in ihrer Seele wirkt und sie dem Ziel entgegenführt. Der erste Abschnitt ihres Lebens bis zum Eintritt in den Karmel ist geprägt von großen „gefühlsmäßig wahrnehmbaren Gnaden“.[57] Nichtsdestoweniger durchläuft die Heilige von Lisieux eine erste längere Phase der Dunkelheit nach dem Tod ihrer Mutter. Darauf folgen schwierige Jahre der Prüfung und der inneren Trockenheit im Kloster. Sie wird auf den Weg des Kreuzes geführt und muss besonders in den Jahren der Krankheit ihres Vaters schwerste innere Qualen ertragen. Leiden und innere Prüfungen durchziehen wie ein roter Faden ihre geistliche Entwicklung. Selbst das glückliche Jahr 1895 mit seinen erquickenden Fluten himmlischen Lichts wird von Therese wohl zu Recht nur als eine Stärkung und Vorbereitung auf die im Frühjahr 1896 beginnende Nacht des Glaubens aufgefasst. „Als ausgezeichneter Pädagoge hat Gott Thérèse zunächst Monate hindurch eine ungetrübte und überquellende Freude geschenkt. Diese Erfahrung hat sie in Bezug auf die Realität und die Liebe Gottes noch sicherer gemacht. Die Erinnerung daran wird ihr in ihrer tiefen Nacht etwas helfen“.[58]

Wenn man ihr Leben als Ganzes in den Blick fasst, kommt man zu dem Ergebnis, dass in ihm eine Mystik der Dunkelheit überwiegt. So betont und propagiert sie wie der hl. Johannes vom Kreuz, dessen Schülerin sie ist, eine Mystik des reinen und dunklen Glaubens. Was sie auszeichnet und zu einer herausragenden Heiligen werden lässt, ist ihr Großmut in der Entfaltung der theologischen Tugenden und ihre Selbstlosigkeit in der entschlossenen Annahme des Kreuzes.

[1] André Combes, Einführung in das Geistesleben der heiligen Theresia vom Kinde Jesu . Trier 1951, 111.

[2] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . Einsiedeln 1981, 29.

[3] Vgl. Guy Gaucher, Thérèses Kindheit in Lisieux. In: Thérèse von Lisieux: Leben – Botschaft - Umwelt , Conrad de Meester (Hrsg.) , Wien 1997, 52.

[4] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 95f.

[5] Ebd., 97.

[6] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 97.

[7] Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen . Wien 2009, 21f.

[8] Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen . 24.

[9] Vgl. ebd., 23.

[10] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 200f.

[11] Vgl. ebd., 73. Therese spricht von einem „ Aufgehen ineinander“.

[12] Ebd., 102f. Anm.: Das Belvedere ist ein Dachzimmer mit „schöner Aussicht“ auf der Vorderseite der Buissonnets.

[13] Therese Martin, Briefe . Theresienwerk e.V. Augsburg (Hrsg.) . Trier 2011, Nr. 43 B, 55.

[14] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 153.

[15] Geneviève Devergnies OCD, „Das Leiden streckte seine Arme nach mir aus“. In: Thérèse von Lisieux: Leben – Botschaft – Umwelt, Conrad de Meester (Hrsg .), Wien 1997, 126f.

[16] Conrad de Meester OCD, Die Entdeckung des „kleinen Weges“. In: Thérèse von Lisieux: Leben – Botschaft – Umwelt, Conrad de Meester (Hrsg.) . 147.

[17] Ernst Gutting, Nur die Liebe zählt . Leutesdorf 1991, 59.

[18] Vgl. Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen . 27.

[19] Therese Martin, Briefe . Nr. 96, 127.

[20] Therese Martin, Briefe . Nr. 82, 107.

[21] Ernst Gutting, Nur die Liebe zählt . 67.

[22] Therese Martin, Briefe . Nr. 197, 293.

[23] Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen . 34.

[24] Ebd.

[25] Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen . 45.

[26] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 162.

[27] André Combes, Einführung in das Geistesleben der heiligen Theresia vom Kinde Jesu . 248.

[28] Therese Martin, Briefe . Nr. 110, 145f.

[29] Vgl. Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen . 35.

[30] Therese Martin, Briefe . Nr. 142, 198.

[31] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 237.

[32] Ebd., 207f.

[33] Therese Martin, Briefe. Nr. 137, 184.

[34] Vgl. Conrad de Meester, Mit leeren Händen . 71.

[35] Therese Martin, Briefe . Nr. 143, 200.

[36] Ida Friederike Görres, Das verborgene Antlitz . Wien 1948, 313.

[37] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 184.

[38] Guy Gaucher, Chronik eines Lebens . Trier 2010, 208.

[39] Vgl. Ida Friederike Görres, Das verborgene Antlitz . 430 und 434.

[40] Vgl. Conrad de Meester OCD, Die Entdeckung des „kleinen Weges“. In: Thérèse von Lisieux: Leben – Botschaft – Umwelt, Conrad de Meester OCD (Hrsg.) . 154.

[41] Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen . 75f.

[42] Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen . 84.

[43] André Combes, Einführung in das Geistesleben der heiligen Theresia vom Kinde Jesu . 293.

[44] Ebd., 286f.

[45] André Combes, Einführung in das Geistesleben der heiligen Theresia vom Kinde Jesu . 295 und 297.

[46] Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen . 89.

[47] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 185f.

[48] Vgl. Hanswerner Reißner, Von der Gerechtigkeit zur Liebe . Jestetten 1985, 17.

[49] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 186.

[50] Hanswerner Reißner, Von der Gerechtigkeit zur Liebe . 17.

[51] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 201.

[52] Conrad de Meester OCD, Die Hingabe an die Barmherzige Liebe. In: Thérèse von Lisieux: Leben – Botschaft – Umwelt, Conrad de Meester (Hrsg.). 158.

[53] Vgl. Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 81.

[54] Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen . 101.

[55] Therese von Lisieux, Selbstbiographische Schriften . 185.

[56] Therese Martin, Ich gehe ins Leben ein – Letzte Gespräche der Heiligen von Lisieux . Leutesdorf 1992, 83.

[57] Vgl. André Combes, Einführung in das Geistesleben der heiligen Theresia vom Kinde Jesu . 167.

[58] Conrad de Meester OCD, Mit leeren Händen. 105.

5. Schluss

Teresa von Avila zeigt in ihren Werken den Weg der Vollendung in Christus. Ihre Erlebnisse, Erklärungen und Anleitungen bewegen sich immer im Rahmen des kirchlichen Glaubens. Daher ist das Ziel ihrer Mystik „keine Versenkung in eine Leere, kein Einswerden mit einem kosmischen Allgrund und keine Erleuchtung im buddhistischen Sinn“.[1] Ihre Spiritualität befindet sich vielmehr ganz im Einklang mit der Heiligen Schrift, mit der Glaubenslehre und dem personalen Gottesbild der Kirche. Deshalb beruhen alle von ihr beschriebenen Ausdrucksformen des Gebetes auf einer persönlichen Begegnung mit Jesus Christus.

Durch das innere Gebet strebt der Mensch nach einer Vertiefung seiner Freundschaft mit dem Herrn. Alle werden von Gott zur Kontemplation eingeladen. Teresa versteht darunter ein passives Gebet, das der Mensch von sich aus nicht hervorbringen kann. Sie nennt es übernatürlich, weil man während des mystischen Gebetes die Wirkungen Gottes im eigenen Inneren erfahren kann. So spürt die Seele beim Gebet der Ruhe, der ersten Stufe der Kontemplation, dass Gott sie an sich ziehen will. Teresa sieht in der Rede Jesu vom lebendigen Wasser einen Hinweis auf das beschauliche Gebet und vergleicht die Kontemplation mit dem sprudelnden Wasser, das in verschiedener Fülle einer Quelle entströmt. So kann das lebendige Wasser in der Form eines überreichen Stromes, eines Baches oder eines Rinnsals empfangen werden. Verschieden sind auch die Arten der Beschauung: Die einen sind angenehm oder gar berauschend, andere wiederum trocken oder auch qualvoll. Die mit der eingegossenen Beschauung verbundenen Zustände des mystischen Gebetes, von denen Teresa in ihren Werken ausführlich spricht, sind für das Erreichen der christlichen Vollkommenheit nicht notwendig. Doch ist sie – wie auch Johannes vom Kreuz – der Überzeugung, dass eine gewisse Form der Beschauung denen nicht fehlen wird, die sich großzügig darauf vorbereiten.

Der hl. Johannes vom Kreuz hat für das Ziel des geistlichen Lebens verschiedene Bezeichnungen: Er spricht von der vollendeten Liebe, von der Einheit der Umwandlung oder von der mystischen Ehe bzw. Vermählung. Um zur unio zu gelangen, sollen wir den Weg des reinen Glaubens gehen, d.h. Gott suchen „im Glauben und in der Liebe“. In enger Verbindung mit den theologischen Tugenden sieht er die Kontemplation und die Gaben des Heiligen Geistes. Gott führt zwar jeden Menschen auf einem einzigartigen Weg. Doch ohne einen intensiven Einfluss der Gaben des Heiligen Geistes kann niemand zur Umwandlung der Liebe gelangen. Sie sind zusammen mit den theologischen Tugenden von entscheidender Bedeutung für den inneren Fortschritt der Seele.

Wenn die Erleuchtung durch den Heiligen Geist während des Gebetes erfolgt, können die kontemplativen Zustände des Gebetes entstehen.[2] Sie kommen durch ein intensiveres Wirken insbesondere der Gaben des Verstandes und der Weisheit zustande und gehören als eingegossene Beschauung zur vollen Entfaltung des Gnadenlebens, können also nicht als außergewöhnlich angesehen werden. Sie sind fast immer die organische Folge einer hochherzigen Übung der Gottesliebe. Auch wenn sie für das Erreichen der Heiligkeit nicht notwendig sind, zeichnet sich eine zur Vollkommenheit gelangte Seele normalerweise durch einen Reichtum an kontemplativen Gnaden aus. Allerdings gibt es bei den Heiligen große Unterschiede, was die höheren Stufen der Kontemplation betrifft. Alle empfangen ein und dasselbe Licht des Heiligen Geistes, aber mitunter auf sehr verschiedene Weise. Der hl. Johannes vom Kreuz ist jedenfalls davon überzeugt, dass Gott den strebsamen Seelen kontemplative Gnaden auch in großer Fülle schenkt, wenn sie sich ihm ganz hingeben in großmütiger Liebe. Somit kann die Kontemplation nicht als das absolute Ideal des geistlichen Lebens angesehen werden, wohl aber als ein relatives Ideal, insofern sie zu einer Loslösung von den Geschöpfen und zu einem raschen Wachstum in der Liebe sehr beitragen kann.

Im Unterschied zur hl. Teresa von Avila überwiegt bei der kleinen hl. Therese vom Kinde Jesus eine Mystik der Dunkelheit. Während ihre geistliche Mutter nach ihrer Bekehrung in den täglichen Stunden der Betrachtung durch ein Übermaß an mystischen Gnaden immer tiefer in die Wohnungen der inneren Burg eingedrungen ist, ringt Therese in der Zeit des Gebetes oft vergeblich mit dem Schlaf und klagt über eine „gewohnte Trockenheit“. Aber gerade auf diesem Weg der Dunkelheit und der Trostlosigkeit gelangt sie eines Tages zur Erkenntnis ihrer Berufung und bahnt durch ihre Spiritualität der geistigen Kindheit „dem christlichen Geistesleben einen neuen Weg“.[3] „Meine Berufung ist die Liebe.“ Auch Therese wird vom Licht des Heiligen Geistes überflutet, auch sie ist eine große Kontemplative. Doch sie empfängt die göttliche Erleuchtung meist auf verborgene Weise während der ganz normalen Beschäftigungen des alltäglichen Lebens. Sie beweist durch ihr Leben und ihre Schriften, dass man auf dem Kleinen Weg des Vertrauens und der restlosen Hingabe ebenso die höchsten Höhen der Gottesliebe erreichen kann wie auf der von der hl. Teresa von Jesus in ihren Werken beschriebenen via mystica.

[1] Camillus Lapauw, Teresa von Avila – Wege nach innen . 218.

[2] Vgl. P. Gabriele di S. M. Maddalena OCD, Nella Luce di San Giovanni della Croce – riflessa in Santa Teresa di Lisieux. 103.

[3] André Combes, Einführung in das Geistesleben der heiligen Theresia vom Kinde Jesu . 171.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
1 Einleitung
2 Die Lehre der hl. Teresa
2.1 Die Bedeutung der hl. Teresa als Lehrmeisterin der Mystik
2.2 Das teresianische System
2.3 Das Ideal der Vollkommenheit
2.4 Die Kontemplation
2.5 Der Stellenwert des kontemplativen Ideals
2.5.1 Kontemplation und Heiligkeit
2.5.2 Der Abkürzungsweg
2.5.3 Die Berufung zur Kontemplation
2.6 Die erforderliche Disposition
2.6.1 Die Großmut
2.6.2 Die Nächstenliebe
2.6.3 Die Loslösung
2.6.4 Die Demut
2.6.5 Das aktive Gebet
3 Die Lehre des hl. Johannes vom Kreuz
3.1 Doctor Mysticus
3.2 Doctor Noctis
3.3 Doctor Amoris
3.4 Der Anfang der Kontemplation
3.4.1 Die aktive Nacht der Sinne
3.4.2 Die passive Nacht der Sinne
3.4.3 Das Verhalten beim Gebet
3.5 Die intensive Übung der theologischen Tugenden
3.5.1 Der Glaube
3.5.2 Die Hoffnung
3.5.3 Die Liebe
3.6 Die Kontemplation und die Gaben des Hl. Geistes
4 Die Lehre der hl. Therese von Lisieux
4.1 Wichtige daten ihres Lebens
4.2 Ereignisse der Gnade in der Kindheit
4.3 Der kleine Weg
4.3.1 Wüste und Sand
4.3.2 Die Erfahrung der eigenen Ohnmacht
4.3.3 Die Entdeckung des Kleinen Weges
4.3.4 Die Hingabe an die Barmherzige Liebe
4.4 War Therese eine Mystikerin?
5. Schluss
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis