Sehr geehrter Herr Kovács, danke für Ihre interessante Antwort. Sie berührt ein tiefes philosophisches Problem beziehungsweise einen tiefgründigen Fragekomplex: Hierauf gehe ich unter anderem in meiner einen Magisterarbeit „Erkenntnis von Personensein“ ein. Dort stelle ich folgende Vorüberlegungen an:
In meiner Arbeit habe ich die mit Ihrer Antwort zusammenhängende Fragen innerhalb eines kurzen Kapitels besprochen:
Die Erkenntnis der realen Existenz von anderen menschlichen Personen
Um eine Antwort auf die Frage, ob andere Personen als unabhängig von dem Erkennenden erkannt werden können, zu suchen, scheint es dienlich, die im Kapitel über die Erkenntnis dargelegten Erkenntnisse über das Wesen der Erkenntnis, zusammenzufassen. Hieran anschließend soll ein weiterer für diese Thematik entscheidender Aspekt des „cogito“ kurz dargelegt werden.
Im ersten Kapitel sind am Beispiel des geträumten roten Apfels, der an einem Birnbaum hängt, folgende Wesenscharakteristika der Erkenntnis dargelegt worden:
a.) Erkenntnis ist nichts Subjektimmanentes, sondern etwas Transzendentes, also etwas, das eine Subjekt-Objekt-Beziehung einschließt. In der Erkenntnis überschreitet (transzendiert) das erkennende Subjekt sich selbst und berührt das Erkenntnis objekt in dessen „Ansichsein“. Überdies kann weder das „Bewusstsein von etwas“ auf das „Vollzugsbewusstsein“ reduziert werden, noch umgekehrt.
b.) Erkenntnis ist somit wesentlich etwas Rezeptives, der Erkennende konstruiert somit in der Erkenntnis nichts, sondern empfängt etwas, was von ihm verschieden ist.
c.) Wie jedes Urteil den Anspruch erhebt, wahr zu sein, so erhebt alles was „erkannt“ wird den Anspruch, so zu sein, wie es vorgibt.
d.) Zur Erkenntnis im engeren Sinne gehört auch, dass der Realitätsanspruch des erkannten Objektes nicht nur erhoben wird, sondern dieser auch tatsächlich seinsautonom ist.
Diese vier Kerncharakteristika der Erkenntnis treffen auch auf die Erkenntnis anderer Menschen, anderer menschlicher Personen zu.
Hierzu kann noch weiter ausgeführt werden, dass es verschiedene Arten von Wirklichkeiten gibt. Es gibt einerseits viele Dinge der Wirklichkeit, die beanspruchen, unabhängig vom erkennenden Subjekt zu sein. Zu solchen Wirklichkeiten können, z. B., gezählt werden:
„ Raum, Zeit , was in ihnen sich vollzieht, also räumliche Bewegung, materielles Sein als substantielles Sein, zeitliche Entfaltung, Werden , Wachstum, Pflanzen und Tiere , andere Personen , wir selbst als objektive, metaphysische Personen (nicht nur als uns selbst ‘erscheinend’), alle Wesenheiten und Wesensgestzlichkeiten bzw. - sachverhalte ; an letzter und höchster Stelle Gott “
Andererseits gibt es auch andere Wirklichkeiten, wie z. B. Farben oder Töne, die nicht beanspruchen vom Subjekt unabhängig zu sein. Vielmehr ist hier erkennbar, dass sie vom erkennenden Subjekt abhängig sind.
Das Erkennen von anderen realen Personen ist ferner, im Gegensatz zum schon behandelten Vollzugs- oder Lateralbewusstsein, ein „Frontalbewusstsein“, das eine Subjekt-Objekt-Beziehung voraussetzt. Es kommt in der Erkenntnis zur geistigen Berührung des Objektes.
Überdies wird, wie schon angedeutet im „cogito sum“, neben der absoluten Gewissheit der Realität der eigenen menschlichen Person auch die Realität der Außenwelt erkannt. Hierzu seien noch einmal kurz einige obige Überlegungen in Erinnerung gerufen.
Habe ich als geistiges Subjekt etwas erkannt, wird mir durch diese einzigartige „Realitäts erfahrung “ meiner selbst als Erkennender, durch meinen Erkenntnisakt, den ich selbst erfahre, auch das intelligible Wesen der Erkenntnis mitgegeben, sodass ich auch dann überaktuell, also unabhängig davon, ob ich gerade etwas erkenne oder nicht, das notwendige und intelligible Wesen der Erkenntnis kontemplieren kann. Im „cogito“ wird somit auch der „Unterschied zwischen dem substantiellen Sein der Person und den von dieser Person getragenen Akten, das Wesen des Zweifels und der Erkenntnis etc.“ erkannt. Somit ist auch durch die Erkenntnis des „cogito sum“ oder des „si fallor sum“ die Erkenntnis der Realität der Außenwelt ganz gewiss. Dieser Sachverhalt, dass die Außenwelt unabhängig von mir als Erkennender existiert und ich dies gewiss erkennen kann, widerlegt jeden Solipsismus und stellt eine notwendige Bedingung dafür dar, dass überhaupt neben mir andere reale Personen als solche erkannt werden können.
Somit ist es falsch, dass allein aufgrund der eigenen Selbsterfahrung, ohne die Möglichkeit wirklicher Erkenntnis, auf die Realität der anderen Menschen in ihrem Personsein geschlossen werden kann. Der Mensch erkennt die anderen realen menschlichen Personen als solche also nicht primär deswegen, weil er, von deren Ähnlichkeit mit sich selbst ableitend, ihnen reales menschliches Personsein zuspricht, sondern der Mensch besitzt die erstaunliche Fähigkeit, die anderen menschlichen Personen in ihrer personalen Individualität als diese einmaligen menschlichen Personen da , intuitiv in „vermittelter Unmittelbarkeit“ zu erkennen. Dies ist sehr staunenswert – ein Mysterium. Diese Form der Erkenntnis der anderen menschlichen Personen liegt m.E. auch der Fähigkeit des Menschen zugrunde, sich in andere Menschen einzufühlen und sie so besser in ihrem Personsein zu erkennen.
Wenn versucht wird, das Eigentümliche der Person mit RICHARD VON ST. VIKTOR als „unmitteilbares Dasein eines denkenden Wesens“ („[ intellectualis] naturae incommunicabilis existentia“) zu charakterisieren, so wird schon hierdurch ersichtlich, dass die menschliche Person in ihrem Dieses-einmalige-geistige-Subjekt-da-Seiende nicht allein durch welche auch immer geartete Ähnlichkeit mit einer anderen Person als diese einmalige Person erkannt werden kann. Denn der „Wesenskern“ der Person ist ihre Diesheit (haecceitas), die in ihrem Diese-da-Sein gerade keine Ähnlichkeit mit der anderen Person in ihrem Diese-da-Sein hat.
Diesen Sachverhalt drückt MÜHLEN im Rückgriff auf DUNS SCOTUS so aus:
„Wohl kann vom vergleichenden Verstande unter Zuhilfenahme des Artunterschiedes eine gewisse Beziehung hergestellt werden, diese ist dann aber eine bloße relatio rationis, hat keine Realität außerhalb des Verstandes. Der Begriff der Person aber ist im direkten Hinblick auf die Sache selbst gewonnen ohne Abstraktion, ohne irgendeine Tätigkeit des vergleichenden Verstandes. Das unmitteilbare Dasein einer menschlichen Natur kann nur so und nicht anders erfaßt werden. […] Aus der Tätigkeit des vergleichenden Verstandes gehen verschiedene Ordnungsbegriffe hervor, die zueinander in korrelativem Verhältnis stehen. […] Person aber ist unmitteilbares Dasein; dieses kann man immer nur von einer einzigen Person aussagen. Eine andere Person hat ein anderes unmitteilbares Dasein.“158
Dennoch kann der menschliche Geist die ideale notwendige Wesenheit der Person erkennen.159
Wie schon erwähnt, ist jede Erkenntnis von Personen keine Sinneserkenntnis, sondern eine intuitive des Geistes, wenn sie auch durch die Sinne vermittelt wird.
An dieser Stelle der Überlegung kann nach den Erkenntnisgründen für die Erkenntnis der anderen Menschen als jeweils einmalige menschliche Personen gefragt werden.
Was ist der Grund dafür, dass „ich“ andere menschliche Personen in ihrer personalen Individualität als diese einmaligen menschlichen Personen da , intuitiv in „vermittelter Unmittelbarkeit“ erkennen kann, wenn doch die Person als dieses geistige Zugrundeliegende nicht allein durch Sinneswahrnehmung erkennbar ist?
Auf diese Frage kann mit SEIFERT geantwortet werden:
„Noch erstaunlicher [als die Erfahrung von existierenden Gegenständen] ist unsere Erfahrung einer anderen Person als existierende. Wir erfassen sie nicht nur als etwas, das dem Objekt unserer Sinneswahrnehmung zugrundeliegt; vielmehr erfahren und verstehen wir ihr geistiges Sein, ihre Seele, auf eine Weise, die bei materiellen Substanzen unmöglich ist: durch ihren Ausdruck und ihre Erscheinung. Das psychische und geistige Leben einer anderen Person ist uns in ihrer sinnvollen Sprache gegeben (die selbst nicht ausschließlich durch die Sinne als existierend erfahren wird, sondern durch das Verstehen der Begriffe, Fragen und Urteile, die in der Sprache ausgedrückt werden); wir erfassen es ferner durch den sichtbaren oder hörbaren Ausdruck ihres Gesichtes oder ihrer Stimme, durch die Körpersprache und die Erfahrung dieser Person als freien Urheber sinnvoller Handlungen. Auf diese und viele andere Weisen erkennen und erfahren wir nicht nur das psychische geistige Leben der anderen Person, sondern diese Person selbst als existierend. Daß wir die Existenz anderer Personen nur durch Akte erkennen können, die weit über Sinneswahrnehmung als solche hinausgehen, gilt in analoger Weise auch für die Erkenntnis der Existenz von Tieren, Pflanzen und ihres Lebens. […] Unsere Erkenntnis anderer Personen gründet sich auf Akte geistigen Wahrnehmens, Verstehens, Interpretierens, Vertrauens und verstandesmäßigen Erfassens, ja sie besteht aus ihnen. Dabei geht es um Akte von äußerstem Reichtum und höchst differenzierter Mannigfaltigkeit, die völlig über die Sinneswahrnehmung hinausgehen, auf der sie aufbauen. In all diesen Akten erkennen wir nicht nur das Wesen der Person; wir erfahren die andere Person auch in ihrer individuellen Existenz. […] Diese Fähigkeit des Geistes, individuelle Seiende in ihrer Individualität als existierend zu erkennen, ist es, welche solche Akte wie Liebe, Versprechen oder andere personale und interpersonale Akte möglich macht. Wie können wir eine andere Person lieben, wenn wir unfähig wären, das individuelle Seiende mit unserem Geist als individuell existierend zu erkennen? […] durch Abstraktion […] [können] wir niemals das Wissen um existierende Individuen gewinnen“.
Ist es nicht tatsächlich höchst verwunderlich, dass „ich“ als menschliche Person andere Menschen als Personen in ihrem geistigen Personsein erfahre? Wie wichtig und grundlegend ist diese erstaunliche Fähigkeit, ohne die es keine personale Gemeinschaft geben kann, zu der aber jede Person durch ihr Personsein berufen scheint. Ohne die Möglichkeit, andere Personen als Personen zu erkennen, könnte „ich“ auch keinen lieben. Personale Liebe, worauf noch genauer einzugehen ist, setzt also die Möglichkeit der Erkenntnis anderer Personen in ihrem Personsein voraus. Auch könnte es keine Gemeinschaft mit anderen menschlichen Personen ohne diese so eigentümliche Teilhabe (μέθεξις) am geistigen Leben, bzw., „Eigenleben“165 auch der anderen menschlichen Personen geben, die anderen Menschen würden für „mich“ zeitlebens nicht mehr als eine vage Vermutung bleiben – wie schrecklich wäre das! Diese eigentümliche Teilhabe am geistigen Leben der anderen menschlichen Personen impliziert ein geistiges Berühren und Wahrnehmen der anderen menschlichen Person in seinem unvergleichlichen Wert, in seiner unermesslichen Kostbarkeit und ontologischen Würde.
Die Erkenntnis der anderen menschlichen Personen als real existierende ist für den Menschen, der, wie oben dargelegt worden ist, die Außenwelt als von ihm unabhängig erkennen kann, gewiss. Die anderen menschlichen Personen werden vom Geist des Erkennenden intuitiv in „vermittelter Unmittelbarkeit“ gleichsam durch ein „Netz“ sich gegenseitig bestätigender Eindrücke als reale Personen erkannt. Einige dieser spezifischen Erfahrungen, die die gewisse Erkenntnis der anderen menschlichen Person vermitteln, sollen nun zusammenfassend aufgezählt werden.
Der Mensch ist „Person im Leib“, somit wird die menschliche Person in ihrem Leib für andere erfahrbar. Ihr personales geistiges Leben, ihre personalen Akte, die eine entscheidende Rolle in der Erkenntnis des anderen als reale menschliche Person spielen, werden durch und im Leib ausgedrückt und der Umwelt mitgeteilt. Neben der gesamten Körpersprache besitzen das menschliche Gesicht und insbesondere die menschlichen Augen, die deswegen im Volksmund auch Tore der Seele genannt werden, aber auch die Stimme, die menschliche Sprache, die teleologischen Handlungen, welche Erkenntnis, insbesondere die „Werterkenntnis“, voraussetzen, in der Vermittlung des geistigen Lebens der Person eine übergeordnete Stellung. Zu den geläufigen personalen Akten des Menschen zählen, z. B., Akt des Erkennens, der Liebe, der Freude, der Trauer, der Dankbarkeit, des Zweifels, des Irrtums und der Tugend.
Die Sittlichkeit und die Erkenntnis sittlicher Werte stellen einen wichtigen Erkenntnisgrund von Personsein, und damit auch von anderen Personen dar. Im Gegensatz zu apersonalen Wesen sind nur Personen zur Sittlichkeit, zur adäquaten Antwort auf sittlich relevante Werte in ihren Taten und damit auch in ihrem Sein befähigt. Nur Personen können in ihrem Personzentrum oder „Herzen“ die Haltung der Grundbejahung der objektiven Werte, insbesondere der sittlich relevanten, durch ihre freie Willens- und Herzensentscheidung entwickeln. Die menschliche Person ist durch ihren freien Willen zu sittlichen Taten befähigt und berufen. Überdies ist die Sittlichkeit mit dem „Zentrum“ der Person auf das Innerste verknüpft, insofern darf mit WOJTYŁA betont werden, dass „die moralischen Werte – Gut und Böse – nicht nur die innere Eigenart der menschlichen Tat darstellen, sondern zugleich an sich haben, daß der Mensch gerade als Person durch diese seine sittlich guten und bösen Taten selbst wird.“
Am Beispiel der Werterkenntnis, die im Unterschied zum Tier, beim Menschen, i.d. R. ein Staunen hervorruft, etwa über die erhabene metaphysische Schönheit einer bergigen Winterlandschaft im goldenen Licht der untergehenden Sonne oder ein Staunen über einen heroischen Tugendakt, werden die Erkenntnisgründe des Personseins der anderen Menschen deutlich.
Ferner kann die Person durch die im Gegensatz zu apersonalem Seienden vollkommenere und „eigentliche“ Verwirklichung der drei wesensnotwendigen Charakteristika der Substanz, nämlich „Selbststand“, „Für-sich-Seiendes“; „reale individuelle Ganzheit“ und unreduzierbares zugrundeliegendes Sein erkannt werden. Die Person als „Selbststand“, bzw. das Für-sich-Sein der Person ist besonderes durch ihren freien Willen, der die Person zur Urheberin von sittlich bedeutsamen Taten macht, verdeutlicht. Neben der Selbsterfahrung als „Herr seiner Selbst“, als „Sich-Habender“, „Sich-Besitzender“, was u.a. auch eine Grundvoraussetzung für die Selbstverschenkung in der Liebe darstellt, und „Sich-Beherrschender“ kann dieser Aspekt auch bei den anderen Menschen, u.a. vermittelt durch ihre Taten, beobachtet werden. Überdies wird, wie auch in der eigenen Selbsterfahrung der Identität, der andere Mensch in seiner Einheit und Identität erfahren.
Auch geht mit den unterschiedlichen Erfahrungen des eigenen Intellektes, Willens und Gedächtnises ( intellectus , voluntas , memoria ), bzw. auch bei anderen, eine tiefe Erkenntnis der Person einher, denn im notwendigen Wesen der Person liegt es begründet, dass intellectus , voluntas und memoria nicht nur für sich allein bestehen können.
Mit AUGUSTINUS soll zusammenfassend noch einmal die Wirklichkeit und Eigenart der Erkenntnis der anderen Menschen als lebende menschliche Personen betont werden. In De civitate Dei schreibt er: „Sodann kennt zwar jeder das eigene Leben, kraft dessen man hienieden im Leibe lebt und diese irdischen Glieder munter und frisch erhält, durch den inneren Sinn, nicht durch Vermittlung der leiblichen Augen; dagegen das Leben anderer sieht man durch Vermittlung des Leibes, trotzdem es unsichtbar ist. Denn woran sonst unterscheiden wir lebende Körper von leblosen als daran, daß wir die Körper und ihr Leben in einem schauen, also auch das Leben nur mittels des Leibes? Aber Leben ohne Körper sehen wir mit den leiblichen Augen nicht. […] Wir leben unter lebenden und Lebenstätigkeit entfaltenden Menschen; sobald wir sie erblicken, glauben wir nicht erst, sondern sehen wir, daß sie leben, obwohl ihr Leben getrennt von ihren Leibern nicht sichtbar ist für uns, so unzweifelhaft wir es an ihnen durch Vermittlung der Leiblichkeit erblicken“.
Es ist noch einmal abschließend zu betonen, dass im Gegensatz zu Erkenntnissen, die, z. B. nur durch schwierige Abstraktionsprozesse des menschlichen Geistes gewonnen werden, die Erkenntnis der anderen Personen eine intuitive geistige in „vermittelter Unmittelbarkeit“ ist, zu der i.d.R. schon jedes etwas ältere Kind fähig ist, dies ist eine Erkenntnis von höchster metaphysischer Tiefe und Wichtigkeit.