Religion und Naturwissenschaft von Prof. Dr. Max Planck

Vortrag gehalten im Baltikum (Mai 1937) von Prof. Dr. Max Planck (1858 – 1947) Professor der Theoretischen Physik an der Universität Berlin[1]


Meine hochverehrten Damen und Herren!

Wenn in früheren Zeiten ein Naturforscher die Aufgabe hatte, vor einem weiteren, nicht gerade aus Fachleuten bestehenden Kreise über ein Thema seines Arbeitsgebietes zu sprechen, so stand er, um bei den Zuhörern einiges Interesse zu erwecken, vor der Notwendigkeit, mit seinen Ausführungen zunächst möglichst an spezielle handgreifliche, dem täglichen Leben entnommene Erfahrungen und Anschauungen anzuknüpfen, wie sie etwa aus der Technik, oder der Meteorologie oder auch der Biologie gewonnen werden, und von da ausgehend die Methoden verständlich zu machen, mittels deren die Wissenschaft von konkreten Einzelfragen zur Erkenntnis allgemeiner Gesetze vorzudringen sucht. Das ist jetzt anders geworden. Die exakte Methodik, deren sich die Naturwissenschaft bedient, hat sich in jahrhundertlanger Arbeit so ausnehmend fruchtbar erwiesen, daß die naturwissenschaftliche Forschung heute sich auch an weniger anschauliche Probleme wie die oben genannten heranwagt, daß sie auch solche der Psychologie, der Erkenntnislehre, ja sogar der allgemeinen Weltanschauung mit Erfolg in Angriff nimmt und von ihrem Standpunkt aus einer eindringenden Behandlung unterwirft. Man darf wohl sagen, daß es gegenwärtig keine noch so abstrakte Frage der menschlichen Kultur gibt, die nicht in irgendeiner Beziehung stände zu einem naturwissenschaftlich faßbaren Problem.

So mag das Wagnis nicht allzu kühn erscheinen, zu dem mich Ihre ehrenvolle Einladung ermutigt, hier im Baltikum mit seinem zähen Kulturwillen als Naturforscher über einen Gegenstand zu sprechen, dessen Bedeutung für unsere gesamte Kultur mit dem Fortschreiten ihrer Entwicklung sich in stetig steigendem Maße auswirkt und ohne Zweifel entscheidend werden wird für die Frage nach dem Schicksal, das ihr dereinst bevorsteht.

I

„Nun sag, wie hast Du’s mit der Religion?“ - Wenn je ein schlicht gesprochenes Wort in Goethes Faust auch den verwöhnten Hörer persönlich erfaßt und in seinem eigenen Inneren eine heimliche Spannung erregt, so ist es diese bange Gewissensfrage des um ihr junges Glück besorgten unschuldigen Mädchens an den ihr als höhere Autorität geltenden Geliebten. Denn es ist dieselbe Frage, die seit jeher ungezählte nach Seelenfrieden und zugleich nach Erkenntnis dürstende Menschenkinder innerlich bewegt und bedrängt.

Faust aber, durch die naive Frage etwas in Verlegenheit gebracht, weiß zunächst nur leise abwehrend zu erwidern: „Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.“

Keinen besseren Spruch könnte ich dem vorausschicken, was ich Ihnen, meine hochverehrten Damen und Herren, heute sagen möchte. Es liegt mir auch der leiseste Versuch fern, denjenigen unter Ihnen, die mit ihrem Gewissen im Reinen sind und die bereits den festen Halt besitzen, der uns für unsere Lebensführung vor allem nötig ist, den Boden unter den Füßen zu lockern. Das wäre ein unverantwortliches Beginnen, sowohl denen gegenüber, die sich in ihrem religiösen Glauben so sicher fühlen, daß sie der naturwissenschaftlichen Erkenntnis keinerlei Einfluß darauf gestatten, als auch gegenüber denen, die auf besondere religiöse Betätigung verzichten und sich an einer gefühlsmäßigen Ethik genügen lassen. Das dürfte aber wohl nur die Minderzahl sein. Denn allzu eindrucksvoll lehrt uns die Geschichte aller Zeiten und Völker, daß gerade aus dem naiven, durch nichts beirrbaren Glauben, wie ihn die Religion ihren im tätigen Leben stehenden Bekennern eingibt, die stärksten Antriebe zu den bedeutenden schöpferischen Leistungen, auf dem Gebiet der Politik nicht minder als auf dem der Kunst und der Wissenschaft, hervorgegangen sind.

Dieser naive Glaube - darüber dürfen wir uns nicht täuschen - besteht heute nicht mehr, auch nicht in den breiten Schichten des Volkes, und er läßt sich auch nicht mehr durch rückwärts gerichtete Betrachtungen und Maßregeln wieder lebendig machen. Denn glauben heißt für wahr halten, und die unablässig auf unanfechtbar sicheren Pfaden fortschreitende Naturerkenntnis hat dahin geführt, daß es für einen naturwissenschaftlich einigermaßen Gebildeten schlechterdings unmöglich ist, die vielen Berichte von außerordentlichen, den Naturgesetzen widersprechenden Begebenheiten, von Naturwundern, die gemeinhin als wesentliche Stützen und Bekräftigungen religiöser Lehren gelten, und die man früher ohne kritische Bedenken einfach als Tatsachen hinnahm, heute noch als auf Wirklichkeit beruhend anzuerkennen.

Wer es also mit seinem Glauben wirklich ernst nimmt und es nicht ertragen kann, wenn dieser mit seinem Wissen in Widerspruch gerät, der steht vor der Gewissensfrage, ob er sich überhaupt noch ehrlich zu einer Religionsgemeinschaft zählen darf, welche in ihrem Bekenntnis den Glauben an Naturwunder einschließt.

Eine Zeitlang konnte mancher noch eine gewisse Beruhigung darin finden, daß er einen Mittelweg einzuschlagen versuchte und sich auf die Anerkennung einiger weniger als besonders wichtig geltender Wunder beschränkte. Aber auf die Dauer ist eine solche Stellung doch nicht zu halten. Schritt für Schritt muß der Glaube an Naturwunder vor der stetig und sicher voranschreitenden Wissenschaft zurückweichen, und wir dürfen nicht daran zweifeln, daß es mit ihm über kurz oder lang zu Ende gehen muß. Schon unsere heute heranwachsende Jugend, die ohnehin bekanntlich den aus der Vergangenheit überlieferten Anschauungen vielfach ausgesprochen kritisch gegenüber- steht, läßt sich durch Lehren, die ihr naturwidrig erscheinen, nicht mehr innerlich binden. Und gerade die geistig hervorragend Begabten unter der Jugend, die für spätere Zeiten zu Führerstellungen berufen sind, und bei denen nicht selten eine tief brennende Sehn- sucht nach religiöser Befriedigung anzutreffen ist, werden durch solche Unstimmigkeiten am empfindlichsten betroffen, und haben, sofern sie aufrichtig nach einem Ausgleich ihrer religiösen und ihrer naturwissenschaftlichen Anschauungen suchen, darunter am schwersten zu leiden.

Unter diesen Umständen ist es nicht zu verwundern, wenn die Gottlosenbewegung, welche die Religion als ein willkürliches, von machtlüsternen Priestern ersonnenes Trugbild erklärt und für den frommen Glauben an eine höhere Macht über uns nur Worte des Hohnes übrig hat, sich mit Eifer die fortschreitende naturwissenschaftliche Erkenntnis zunutze macht und im angeblichen Bunde mit ihr in immer schnellerem Tempo ihre zersetzende Wirkung über die Völker der Erde in allen ihren Schichten vorantreibt. Daß mit ihrem Siege nicht nur die wertvollsten Schätze unserer Kultur, sondern, was schlimmer ist, auch die Aussichten auf eine bessere Zukunft der Vernichtung anheim fallen würden, brauche ich hier nicht näher zu erörtern.

So gewinnt Gretchens Frage an den Auserwählten ihrer Liebe und ihres Vertrauens auch für jeden, dem daran liegt zu wissen, ob der Fortschritt der Naturwissenschaften wirklich den Niedergang echter Religion zur Folge hat, eine tiefernste Bedeutung.

Wenn wir uns nun Fausts ausführliche, mit aller Vorsicht und allem Zartgefühl vorgetragene Antwort vor Augen halten, so dürfen wir sie uns hier aus einem doppelten Grunde nicht unmittelbar zu eigen machen: einmal ist zu bedenken, daß diese Antwort nach Form und Inhalt auf die Fassungskraft des ungelehrten Mädchens zugeschnitten ist und daß sie demgemäß nicht sowohl auf den Verstand als auf das Gemüt und die Einbildungskraft wirken soll; dann aber, was entscheidender ins Gewicht fällt, muß beachtet werden, daß hier der von Sinnenlust getriebene und mit Mephistopheles im Bunde stehende Faust das Wort hat. Ich bin sicher, daß der erlöste Faust, wie wir ihn vom Ende des zweiten Teiles her kennen, auf Gretchens Frage eine etwas andere Antwort erteilen würde. Aber ich will mich nicht vermessen, mit besonderen Mutmaßungen in Geheimnisse einzudringen, die sich der Dichter für immer vorbehalten hat. Ich möchte vielmehr versuchen, vom Standpunkt eines im Geiste der exakten Naturforschung aufgewachsenen Gelehrten die Frage zu beleuchten, ob und inwiefern eine wahrhaft religiöse Gesinnung mit den uns von der Naturwissenschaft übermittelten Erkenntnissen verträglich ist, oder kürzer gesagt: ob ein naturwissenschaftlich Gebildeter zugleich auch echt religiös sein kann.

Zu diesem Zwecke wollen wir zunächst zwei spezielle Fragen ganz getrennt behandeln. Die erste Frage lautet: welche Forderungen stellt die Religion an den Glauben ihrer Bekenner und welches sind die Merkmale echter Religiosität? Die zweite Frage ist: welcher Art sind die Gesetze, die uns die Naturwissenschaft lehrt, und welche Wahrheiten gelten ihr als unantastbar?

Durch die Beantwortung dieser beiden Fragen wird uns die Möglichkeit gegeben werden, zu entscheiden, ob und inwieweit die Forderungen der Religion mit den Forderungen der Naturwissenschaft vereinbar sind, und ob daher Religion und Naturwissenschaft nebeneinander bestehen können, ohne sich zu widerstreiten.

II

Religion ist die Bindung des Menschen an Gott. Sie beruht auf der ehrfurchtsvollen Scheu vor einer überirdischen Macht, der das Menschenleben unterworfen ist und die unser Wohl und Wehe in ihrer Gewalt hat. Mit dieser Macht sich in Übereinstimmung zu setzen und sie sich wohlgesinnt zu erhalten ist das beständige Streben und das höchste Ziel des religiösen Menschen. Denn nur so kann er sich vor den ihn im Leben bedrohenden Gefahren, den vorhergesehenen und den unvorhergesehenen, geborgen fühlen, und wird des reinsten Glückes teilhaftig, des inneren Seelenfriedens, der nur verbürgt werden kann durch das feste Bündnis mit Gott und durch das unbedingte gläubige Vertrauen auf seine Allmacht und seine Hilfsbereitschaft. Insofern wurzelt die Religion im Bewußtsein des einzelnen Menschen.

Aber ihre Bedeutung geht über den Einzelnen hinaus. Nicht etwa hat jeder Mensch seine eigene Religion, vielmehr beansprucht die Religion Gültigkeit und Bedeutung für eine größere Gemeinschaft, für ein Volk, für eine Rasse, ja in letzter Linie für die gesamte Menschheit. Denn Gott regiert gleicherweise in allen Ländern der Erde, ihm ist die ganze Welt mit ihren Schätzen wie auch mit ihren Schrecknissen untertan, und es gibt im Reich der Natur wie im Reich des Geistes kein Gebiet, das er nicht allgegenwärtig durchdringt.

Daher führt die Pflege der Religion ihre Bekenner zu einem umfassenden Bunde zusammen und stellt sie vor die Aufgabe, sich über ihren Glauben gegenseitig zu verständigen und ihm einen gemeinsamen Ausdruck zu geben. Das kann aber nur dadurch geschehen, daß der Inhalt der Religion in eine bestimmte äußere Form gefaßt wird, die sich durch ihre Anschaulichkeit für die gegenseitige Verständigung eignet. Bei der großen Verschiedenheit der Völker und ihrer Lebensbedingungen ist es nur natürlich, daß diese anschauliche Form in den einzelnen Erdteilen stark variiert und daß daher im Verlauf der Zeiten sehr viele Arten von Religionen entstanden sind. Allen Arten gemeinsam ist wohl die nächstliegende Annahme, sich Gott als Persönlichkeit oder wenigstens als menschenähnlich vorzustellen. Darüber hinaus ist für die verschiedensten Auffassungen der Eigenschaften Gottes Platz. Eine jede Religion hat ihre bestimmte Mythologie und ihren bestimmten Ritus, der bei den höher ausgebildeten Religionen in die feinsten Einzelheiten hinein entwickelt ist. Daraus ergeben sich für die Ausgestaltung des religiösen Kultus bestimmte anschauliche Symbole, die geeignet sind, unmittelbar auf die Einbildungskraft weiter Kreise im Volke zu wirken, ihnen dadurch das Interesse für religiöse Fragen zu wecken und ein gewisses Verständnis für das Wesen Gottes nahe zu bringen.

So tritt die Gottesverehrung durch die systematische Zusammenfassung der mythologischen Überlieferungen und durch die Innehaltung feierlicher ritueller Gebräuche symbolisch in die äußere Erscheinung, und im Verlauf der Jahrhunderte steigert sich die Bedeutung solcher religiösen Symbole immer weiter durch unablässige Übung und durch regelmäßige Erziehung von Geschlecht zu Geschlecht. Die Heiligkeit der unfaßbaren Gottheit überträgt sich auf die Heiligkeit der faßbaren Symbole. Daraus erwachsen auch für die Kunst starke Antriebe, und in der Tat hat die Kunst dadurch, daß sie sich in den Dienst der Religion stellte, die kräftigste Förderung erfahren.

Doch ist hier zwischen Kunst und Religion wohl zu unterscheiden. Das Kunstwerk hat seine Bedeutung wesentlich in sich selbst. Wenn es auch seine Entstehung in der Regel äußeren Umständen verdankt und dementsprechend häufig zu abseits führenden Ideenverbindungen Anlaß gibt, so findet es doch im Grunde in sich allein Genüge und bedarf zur rechten Würdigung keiner besonderen Interpretation. Am deutlichsten erkennt man das an der abstraktesten aller Künste, der Musik.

Das religiöse Symbol dagegen weist stets über sich hinaus, sein Wert erschöpft sich niemals in sich selbst, mag es auch durch das Ansehen, das ihm Alter und eine fromme Tradition verleihen kann, eine noch so ehrwürdige Stellung einnehmen. Dies zu betonen ist deshalb so wichtig, weil die Wertschätzung, deren sich gewisse religiöse Symbole erfreuen, im Lauf der Jahrhunderte gewissen unvermeidlichen, durch die Entwicklung der Kultur bedingten Schwankungen unterliegt, und weil es im Interesse der Pflege echter Religiosität liegt, festzustellen, daß das, was hinter und über den Symbolen steht, von solchen Schwankungen nicht betroffen wird.

Um unter vielen speziellen Beispielen hier nur ein einziges anzuführen: ein geflügelter Engel galt von jeher als das schönste Sinnbild eines Dieners und Boten Gottes. Neuerdings findet man unter den anatomisch Gebildeten einige, deren wissenschaftlich geschulte Einbildungskraft ihnen beim besten Willen nicht gestattet, eine solche physiologische Unmöglichkeit schön zu finden. Dieser Umstand braucht aber ihrer religiösen Gesinnung nicht im mindesten Eintrag zu tun. Sie sollen sich nur sorgfältig hüten, den anderen, denen der Anblick geflügelter Engel Trost und Erbauung gewährt, die heilige Stimmung zu schmälern oder zu verderben.

Aber noch eine andere weit ernstere Gefahr droht einer Überschätzung der Bedeutung religiöser Symbole von seiten der Gottlosenbewegung. Es ist eines der beliebtesten Mittel dieser auf die Untergrabung jeder echten Religiosität abzielenden Bewegung, ihre Angriffe gegen alteingebürgerte religiöse Sitten und Gebräuche zu richten und sie als veraltete Einrichtungen lächerlich oder verächtlich zu machen. Mit solchen Angriffen gegen Symbole glauben sie die Religion selber zu treffen, und sie haben um so leichteres Spiel, je eigentümlicher und auffallender sich derartige Anschauungen und Sitten ausnehmen. Schon manche religiöse Seele ist dieser Taktik zum Opfer gefallen.

Solcher Gefahr gegenüber gibt es keine bessere Schutzwehr als sich klar zu machen, daß ein religiöses Symbol, mag es noch so ehrwürdig sein, niemals einen absoluten Wert darstellt, sondern immer nur einen mehr oder weniger unvollkommenen Hinweis auf ein Höheres, das den Sinnen nicht direkt zugänglich ist.

Unter diesen Umständen ist es wohl verständlich, daß im Lauf der Religionsgeschichte immer wieder der Gedanke auftaucht, den Gebrauch von religiösen Symbolen von vornherein einzuschränken oder sogar ganz aufzuheben, und die Religion mehr als eine Angelegenheit der abstrakten Vernunft zu behandeln. Doch zeigt schon eine kurze Überlegung, daß ein solcher Gedanke ganz abwegig ist. Ohne Symbol wäre keine Verständigung, überhaupt keine Mitteilung zwischen den Menschen möglich. Das gilt nicht allein für den religiösen, sondern auch für jeglichen menschlichen Verkehr, auch im profanen täglichen Leben. Schon die Sprache ist ja nichts anderes als ein Symbol für etwas Höheres, für den Gedanken. Gewiß beansprucht ein einzelnes Wort an sich auch ein charakteristisches Interesse, aber genauer gesehen ist ein Wort doch nur eine Buchstabenfolge, seine Bedeutung liegt wesentlich in dem Begriff, den es ausdrückt. Und für diesen Begriff ist es im Grunde nebensächlich, ob er durch dieses oder durch jenes Wort, in dieser oder jener Mundart dargestellt wird. Wenn das Wort in eine andere Sprache übersetzt wird, bleibt der Begriff bestehen.

Oder ein anderes Beispiel. Das Symbol für das Ansehen und die Ehre eines ruhmreichen Regiments ist seine Fahne. Je älter sie ist, desto höher gilt ihr Wert. Und ihr Träger rechnet es sich in der Schlacht zur höchsten Pflicht, sie um keinen Preis im Stich zu lassen, sie im Notfall mit seinem Leibe zu decken, ja, wenn es gilt, für sie sein Leben hinzugeben. Und doch ist eine Fahne nur ein Symbol, ein Stück buntes Tuch. Der Feind kann es rauben, kann es besudeln oder zerreißen. Aber damit hat er das Höhere, was durch die Fahne symbolisiert wird, keineswegs vernichtet. Das Regiment wahrt seine Ehre, es schafft sich eine neue Fahne und wird vielleicht für die angetane Schmach gebührende Vergeltung üben.

Ebenso nun wie in einem Heere oder überhaupt in jeder vor große Aufgaben gestellten Gemeinschaft sind auch in der Religion Symbole und ein den Symbolen angepaßter kirchlicher Ritus völlig unentbehrlich, sie bedeuten das höchste und verehrungs- würdigste, was himmelwärts gerichtete Einbildungskraft geschaffen hat, nur darf niemals vergessen werden, daß auch das heiligste Symbol menschlichen Ursprungs ist.

Hätte man diese Wahrheit zu allen Zeiten beherzigt, so wäre der Menschheit unendlich viel Jammer und Herzeleid erspart geblieben. Denn die furchtbaren Religionskriege, die grausamen Ketzerverfolgungen mit allen ihren traurigen Begleiterscheinungen sind doch in letztem Grunde nur darauf zurückzuführen, daß gewisse Gegensätze aufeinanderprallten, denen beiden eine gewisse Berechtigung innewohnt, und die lediglich dadurch entstanden sind, daß eine gemeinsame unsichtbare Idee, wie der Glaube an einen allmächtigen Gott, verwechselt wurde mit ihren nicht übereinstimmenden sichtbaren Ausdrucksmitteln wie das kirchliche Bekenntnis. Es gibt wohl nichts Betrüblicheres, als wenn man sieht, wie von zwei sich bitter befehdenden Gegnern ein jeder in voller Überzeugung und in ehrlicher Begeisterung von der Gerechtigkeit seiner Sache seine besten Kräfte bis zur Selbstaufopferung dem Kampf zu widmen sich verpflichtet fühlt. Was hätte alles geschaffen werden können, wenn auf dem Gebiet religiöser Betätigung solche wertvollen Kräfte sich vereinigt hätten, anstatt sich gegenseitig nach Möglichkeit aufzureiben.

Der tiefreligiöse Mensch, der seinen Glauben an Gott durch die Verehrung der ihm vertrauten heiligen Symbole betätigt, klebt gleichwohl nicht an den Symbolen fest, sondern hat Verständnis dafür, daß es auch andere ebenso religiöse Menschen geben kann, denen andere Symbole vertraut und heilig sind, ebenso wie irgendein bestimmter Begriff der nämliche bleibt, ob er durch dieses oder jenes Wort, in dieser oder jener Sprache ausgedrückt wird.

Aber mit der Anerkennung dieses Tatbestandes sind die Merkmale echt religiöser Gesinnung noch keineswegs erschöpfend klargestellt. Denn nun erhebt sich noch eine weitere, die eigentlich grundsätzliche Frage. Hat die höhere Macht, die hinter den religiösen Symbolen steht, und die ihnen ihre wesentliche Bedeutung verleiht, ihren Sitz lediglich im Geiste des Menschen und kommt mit ihm zugleich zum Erlöschen oder stellt sie noch etwas mehr vor? Mit anderen Worten: lebt Gott nur in der Seele der Gläubigen, oder regiert er die Welt unabhängig davon, ob man an ihn glaubt oder nicht glaubt? Dies ist der Punkt, an welchem sich die Geister grundsätzlich und endgültig scheiden. Er läßt sich nie und nimmer auf wissenschaftlichem Wege, das heißt durch logische, auf Tatsachen gegründete Schlußfolgerungen aufklären. Vielmehr ist die Beantwortung dieser Frage einzig und allein Sache des Glaubens, des religiösen Glaubens.

Der religiöse Mensch beantwortet die Frage dahin, daß Gott existiert, ehe es überhaupt Menschen auf der Erde gab, daß er von Ewigkeit her die ganze Welt, Gläubige und Ungläubige, in seiner allmächtigen Hand hält und daß er auf seiner aller menschlichen Fassungskraft unzugänglichen Höhe unveränderlich thronen bleibt, auch wenn die Erde mit allem, was auf ihr ist, längst in Trümmer gegangen sein wird. Alle diejenigen, die sich zu diesem Glauben bekennen und sich, von ihm durchdrungen, in Ehrfurcht und hingebendem Vertrauen unter dem Schutz des Allmächtigen vor allen Gefahren des Lebens gesichert fühlen, aber auch nur diese, dürfen sich zu den wahrhaft religiös Gesinnten rechnen.

Das ist der wesentliche Inhalt der Sätze, deren Anerkennung die Religion von ihren Anhängern fordert. Sehen wir nun zu, ob und wie sich diese Forderungen mit denen der Wissenschaft, speziell der Naturwissenschaft, vertragen.

III

Indem wir darangehen zu prüfen, welche Gesetze uns die Wissenschaft lehrt, und welche Wahrheiten ihr als unantastbar gelten, wird es unsere Aufgabe vereinfachen und für unseren Zweck vollauf genügen, wenn wir uns an die exakteste aller Naturwissenschaften halten, die Physik. Denn von ihr wäre jedenfalls am ehesten ein Widerspruch gegen die Forderungen der Religion zu erwarten. Wir haben also zu fragen, welcher Art die Erkenntnisse der physikalischen Wissenschaft bis in die neueste Zeit hinein sind, und welche Grenzen eventuell dem religiösen Glauben durch sie vorgeschrieben werden.

Ich brauche kaum vorauszuschicken, daß, historisch im großen und ganzen gesehen, die Ergebnisse der physikalischen Forschung und die sich daraus ergebenden Anschauungen nicht etwa einem ziellosen Wechsel unterworfen sind, sondern sich in stetigem bald langsameren, bald schnellerem Tempo bis zum heutigen Tage immer mehr vervollkommnet und verfeinert haben, so daß wir die bisher von ihr gewonnenen Erkenntnisse mit großer Sicherheit als bleibend annehmen können.

Welches ist nun der wesentliche Inhalt dieser Erkenntnisse? Zunächst ist zu sagen, daß alle physikalischen Erkenntnisse auf Messungen beruhen, und daß alle Messungen sich in Raum und Zeit abspielen, wobei die Größenordnungen in unvorstellbar weitem Maße variieren. Von den Entfernungen der kosmischen Regionen, aus denen noch eine Kunde zu uns dringt, bekommt man einen angenäherten Begriff, wenn man bedenkt, daß das Licht, welches die Strecke vom Monde bis zur Erde in etwa einer Sekunde zurücklegt, viele Millionen von Jahren braucht, um von ihnen zu uns hin zu gelangen. Auf der anderen Seite ist die Physik genötigt, mit Raum- und Zeitgrößen zu rechnen, deren winzige Kleinheit etwa durch das Verhältnis der Größe eines Stecknadelknopfes zu der der ganzen Erdkugel veranschaulicht werden kann.

Die allerverschiedenartigsten Messungen haben nun übereinstimmend zu dem Schluß geführt, daß sämtliche physikalische Geschehnisse ohne Ausnahme zurückgeführt werden können auf mechanische oder elektrische Vorgänge, hervorgerufen durch die Bewegungen gewisser Elementarteilchen, wie Elektronen, Positronen, Protonen, Neutronen, wobei sowohl die Masse als auch die Ladung eines jeden dieser Elementarteilchen durch eine ganz bestimmte winzig kleine Zahl ausgedrückt wird, die sich um so genauer angeben Iäßt, je mehr die Messungsmethoden verfeinert werden. Diese kleinen Zahlen, die sogenannten universellen Konstanten, sind gewissermaßen die unveränderlich gegebenen Bausteine, aus denen sich das Lehrgebäude der theoretischen Physik zusammensetzt.

Welches ist denn nun, so müssen wir weiter fragen, die eigentliche Bedeutung dieser Konstanten? Sind sie in letzter Linie Erfindungen des menschlichen Forschergeistes oder besitzen sie einen realen, von der menschlichen Intelligenz unabhängigen Sinn?

Das erstere behaupten die Anhänger des Positivismus, wenigstens in seiner extremen Färbung. Nach ihnen hat die Physik keine andere Grundlage als die Messungen, auf denen sie sich ja aufbaut, und ein physikalischer Satz hat nur insofern Sinn, als er durch Messungen belegt werden kann. Da nun eine jede Messung einen Beobachter voraussetzt, so ist, positivistisch betrachtet, der eigentliche Inhalt eines physikalischen Satzes von dem Beobachter gar nicht zu trennen und verliert seinen Sinn, sobald man versucht, den Beobachter ganz wegzudenken und hinter ihm und seiner Messung noch etwas anderes, reales, davon unabhängiges zu sehen.

Gegen diese Auffassung läßt sich vom rein logischen Standpunkt aus nichts einwenden. Und doch muß man sie in dieser Form bei näherer Prüfung als unzureichend und unfruchtbar bezeichnen. Denn sie läßt einen Umstand außer acht, der für die Vertiefung und den Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis von entscheidender Bedeutung ist. So voraussetzungsfrei sich nämlich auch sonst der Positivismus ausnimmt, an eine grundsätzliche Voraussetzung ist er gebunden, wenn er nicht in einen unvernünftigen Solipsismus[2] ausarten soll: an die Voraussetzung, daß eine jede physikalische Messung reproduzierbar ist, d.h., daß ihr Ergebnis nicht abhängt von der Individualität des Messenden, auch nicht vom Ort und von der Zeit der Messung, sowie von sonstigen Begleitumständen. Dies besagt aber, daß das für das Messungsergebnis Entscheidende außerhalb des Beobachters liegt und führt daher zwangsläufig zu Fragen nach einer hinter dem Beobachter vorhandenen realen Ursächlichkeit. Gewiß ist zuzugeben, daß die positivistische Betrachtungsweise ihren eigentümlichen Wert besitzt; denn sie hilft dazu, die Bedeutung physikalischer Sätze begrifflich zu klären, das empirisch Bewiesene vom empirisch Unbewiesenen zu trennen, gefühlsmäßige, lediglich von lang gewohnter Anschauung genährte Vorurteile zu entfernen und dadurch der vorwärts drängenden Forschung den Weg zu ebnen. Aber um auf dem Wege führend zu wirken, dazu fehlt dem Positivismus die treibende Kraft. Er kann wohl Hemmungen beseitigen, aber er kann nicht fruchtbar gestalten. Denn seine Tätigkeit ist wesentlich kritisch, sein Blick rückwärts gerichtet. Zum Vorwärtskommen gehören aber neue, schöpferische, aus Messungsresultaten allein nicht abzuleitende, sondern über sie hinausgehende Ideenverbindungen und Fragestellungen, und solchen steht der Positivismus grundsätzlich ablehnend gegenüber.

Daher haben auch die Positivisten aller Schattierungen der Einführung atomistischer Hypothesen und damit auch der Anerkennung der oben genannten universellen Konstanten bis zuletzt den schärfsten Widerstand entgegengesetzt. Das ist wohl verständlich; denn die Existenz dieser Konstanten ist ein greifbarer Beweis für das Vorhandensein einer Realität in der Natur, die unabhängig ist von jeder menschlichen Messung.

Freilich könnte ein konsequenter Positivist auch heute noch die universellen Konstanten als eine Erfindung bezeichnen, die sich deshalb als ungemein nützlich erwiesen hat, weil sie eine genaue und vollständige Beschreibung der verschiedenartigsten Messungsergebnisse ermöglicht. Aber es wird kaum einen richtigen Physiker geben, der eine solche Behauptung ernst nehmen würde. Die universellen Konstanten sind nicht aus Zweckmäßigkeitsgründen erfunden worden, sondern sie haben sich mit unwiderstehlichem Zwang aufgedrängt durch die übereinstimmenden Resultate sämtlicher einschlägiger Messungen, und, was das Wesentliche ist, wir wissen im voraus genau, daß alle künftigen Messungen auf die nämlichen Konstanten führen werden.

Zusammenfassend können wir sagen, daß die physikalische Wissenschaft die Annahme einer realen, von uns unabhängigen Welt fordert, die wir allerdings niemals direkt erkennen, sondern immer nur durch die Brille unserer Sinnesempfindungen und der durch sie vermittelten Messungen wahrnehmen können.

Wenn wir diesen Satz weiter verfolgen, so nimmt unsere Betrachtungsweise der Welt eine veränderte Form an. Das Subjekt der Betrachtung, das beobachtende Ich, rückt aus dem Mittelpunkt des Denkens heraus und wird auf einen ganz bescheidenen Platz verwiesen. In der Tat: wie erbärmlich klein, wie ohnmächtig müssen wir Menschen uns vorkommen, wenn wir bedenken, daß die Erde, auf der wir leben, in dem schier unermeßlichen Weltall nur ein minimales Stäubchen, geradezu ein Nichts bedeutet, und wie seltsam muß es uns andererseits erscheinen, daß wir, winzige Geschöpfe auf einem beliebigen winzigen Planeten, imstande sind, mit unseren Gedanken zwar nicht das Wesen, aber doch das Vorhandensein und die Größe der elementaren Bausteine der ganzen großen Welt genau zu erkennen.

Aber das Wunderbare geht noch weiter. Es ist ein unbezweifelbares Ergebnis der physikalischen Forschung, daß diese elementaren Bausteine des Weltgebäudes nicht in einzelnen Gruppen ohne Zusammenhang nebeneinander liegen, sondern daß sie sämtlich nach einem einzigen Plan aneinander gefügt sind, oder mit anderen Worten, daß in allen Vorgängen der Natur eine universale, uns bis zu einem gewissen Grad erkennbare Gesetzlichkeit herrscht.

Ich will hier zunächst nur ein einziges Beispiel erwähnen: das Prinzip der Erhaltung der Energie. Es gibt in der Natur verschiedene Arten von Energien: die Energie der Bewegung, der Gravitation, der Wärme, der Elektrizität, des Magnetismus. Alle Energien zusammengenommen bilden den Energievorrat der Welt. Dieser Energievorrat nun besitzt eine unveränderliche Größe, er kann durch keinen Vorgang in der Natur vermehrt oder verringert werden, alle in Wirklichkeit eintretenden Veränderungen bestehen nur in wechselseitigen Umwandlungen von Energie. Wenn z.B. Energie der Bewegung durch Reibung verloren geht, so entsteht dafür der äquivalente Betrag von Wärmeenergie.

Das Energieprinzip erstreckt seine Herrschaft über sämtliche Gebiete der Physik, und zwar nach der klassischen Theorie ebenso wie nach der Quantentheorie. Man hat zwar öfters versucht, seine genaue Gültigkeit für die in einem einzelnen Atom stattfindenden Vorgänge anzuzweifeln und ihm für solche Vorgänge nur einen statistischen Charakter zuzugestehen. Aber eine genaue Kontrolle hat in jedem bisher daraufhin geprüften Falle gezeigt, daß ein solcher Versuch erfolglos ist, und daß keine Veranlassung besteht, dem Prinzip den Rang eines vollkommen exakten Naturgesetzes abzusprechen.

Nun hören wir häufig von positivistisch eingestellter Seite wieder die kritische Entgegnung: die genaue Gültigkeit eines solchen Satzes sei durchaus nicht verwunderlich. Das Rätsel erkläre sich vielmehr ganz einfach durch den Umstand, daß es schließlich der Mensch selber ist, welcher der Natur ihre Gesetze vorschreibe. Und bei dieser Behauptung beruft man sich sogar auf die Autorität von Immanuel Kant.

Nun, daß die Naturgesetze nicht von den Menschen erfunden worden sind, sondern daß ihre Anerkennung ihnen von außen aufgezwungen wird, haben wir wohl schon ausführlich genug besprochen. Von vornherein könnten wir uns die Naturgesetze, ebenso wie die Werte der universellen Konstanten auch ganz anders denken, als sie in Wirklichkeit sind. Was aber die Berufung auf Kant betrifft, so liegt hier ein grobes Mißverständnis vor. Denn Kant hat nicht gelehrt, daß der Mensch der Natur ihre Gesetze schlechthin vorschreibt, sondern er hat gelehrt, daß der Mensch bei der Formulierung der Naturgesetze auch etwas aus Eigenem hinzufügt. Wie wäre es sonst auch denkbar, daß Kant nach seinem eigenen Ausspruch durch keinen äußeren Eindruck sich zu tieferer Ehrfurcht gestimmt fühlte als durch den Anblick des gestirnten Himmels? Man pflegt doch einer Vorschrift, die man selber verfaßt hat, nicht gerade die allertiefste Ehrfurcht entgegenzubringen. Dem Positivisten freilich ist eine solche Ehrfurcht fremd. Für ihn sind die Sterne nichts weiter als optische Empfindungskomplexe, alles andere ist nach seiner Meinung nützliche, aber im Grunde willkürliche und entbehrliche Zutat.

Doch wir wollen jetzt den Positivismus beiseite lassen und unseren Gedankengang weiter verfolgen. Das Energieprinzip ist ja nicht das einzige Naturgesetz, sondern nur eines unter mehreren. Es gilt zwar in jedem einzelnen Fall, aber es genügt noch lange nicht, um den Ablauf eines Naturvorganges in allen Einzelheiten vorauszuberechnen, da es noch unendlich viele Möglichkeiten offen läßt.

Es gibt indessen ein anderes, viel umfassenderes Gesetz, welches die Eigentümlichkeit hat, daß es auf jedwede den Verlauf eines Naturvorganges betreffende sinnvolle Frage eine eindeutige Antwort gibt, und dies Gesetz besitzt, soweit wir sehen können, ebenso wie das Energieprinzip, genaue Gültigkeit, auch in der allerneuesten Physik. Was wir aber nun als das allergrößte Wunder ansehen müssen, ist die Tatsache, daß die sachgemäßeste Formulierung dieses Gesetzes bei jedem Unbefangenen den Eindruck erweckt, als ob die Natur von einem vernünftigen, zweckbewußten Willen regiert würde.

Ein spezielles Beispiel möge das erläutern. Bekanntlich wird ein Lichtstrahl, der in schräger Richtung auf die Oberfläche eines durchsichtigen Körpers, etwa auf eine Wasserfläche, trifft, beim Eintritt in den Körper von seiner Richtung abgelenkt. Die Ursache für diese Ablenkung ist der Umstand, daß das Licht sich im Wasser langsamer fortpflanzt als in der Luft. Eine solche Ablenkung oder Brechung findet also auch in der atmosphärischen Luft statt, weil in den tieferen, dichteren Luftschichten das Licht sich langsamer fortpflanzt als in den höheren. Wenn nun ein Lichtstrahl von einem leuchtenden Stern in das Auge eines Beobachters gelangt, so wird seine Bahn, wenn der Stern nicht gerade senkrecht im Zenith steht, infolge der verschiedenen Brechungen in den verschiedenen Luftschichten eine mehr oder weniger komplizierte Krümmung aufweisen. Diese Krümmung wird nun durch das folgende einfache Gesetz vollkommen bestimmt: unter sämtlichen Bahnen, die vom Stern in das Auge des Beobachters führen, benutzt das Licht immer gerade diejenige, zu deren Zurücklegung es, bei Berücksichtigung der verschiedenen Fortpflanzungsgeschwindigkeiten in den verschiedenen Luftschichten, die kürzeste Zeit braucht. Die Photonen, welche den Licht- strahl bilden, verhalten sich also wie vernünftige Wesen. Sie wählen sich unter allen möglichen Kurven, die sich ihnen darbieten, stets diejenige aus, die sie am schnellsten zum Ziele führt.

Dieser Satz ist einer großartigen Verallgemeinerung fähig. Nach allem, was wir über die Gesetze der Vorgänge in irgendeinem physikalischen Gebilde wissen, können wir den Ablauf eines jeden Vorganges in allen Einzelheiten durch den Satz charakterisieren, daß unter allen denkbaren Vorgängen, welche das Gebilde in einer bestimmten Zeit aus einem bestimmten Zustand in einen andern bestimmten Zustand überführen, der wirkliche Vorgang derjenige ist, für welchen das über diese Zeit erstreckte Integral einer gewissen Größe, der so genannten Lagrange‘schen Funktion, den kleinsten Wert besitzt. Kennt man also den Ausdruck der Lagrange‘schen Funktion, so läßt sich der Verlauf des wirklichen Vorganges vollständig angeben.

Es ist gewiß nicht verwunderlich, daß die Entdeckung dieses Gesetzes, des so genannten Prinzips der kleinsten Wirkung, nach welchem später auch das elementare Wirkungsquantum seinen Namen bekommen hat, seinen Urheber Leibniz, ebenso wie bald darauf dessen Nachfolger Maupertuis, in helle Begeisterung versetzt hat, da diese Forscher darin das greifbare Zeichen für das Walten einer höheren, die Natur allmächtig beherrschenden Vernunft gefunden zu haben glaubten.

In der Tat, durch das Wirkungsprinzip wird in den Begriff der Ursächlichkeit ein ganz neuer Gedanke eingeführt: zu der Causa efficiens, der Ursache, welche aus der Gegenwart in die Zukunft wirkt und die späteren Zustände als bedingt durch die früheren erscheinen Iäßt, gesellt sich die Causa finalis, welche umgekehrt die Zukunft, nämlich ein bestimmt angestrebtes Ziel, zur Voraussetzung macht und daraus den Verlauf der Vorgänge ableitet, welche zu diesem Ziele hinführen.

Solange man sich auf das Gebiet der Physik beschränkt, sind diese beiden Arten der Betrachtungsweise nur verschiedene mathematische Formen für ein und denselben Sachverhalt, und es wäre müßig zu fragen, welche von beiden der Wahrheit näher kommt. Ob man die eine oder die andere benutzen will, hängt allein von praktischen Erwägungen ab. Ein Hauptvorzug des Prinzips der kleinsten Wirkung ist, daß es zu seiner Formulierung keines bestimmten Bezugssystems bedarf. Daher eignet sich das Prinzip auch vorzüglich für die Ausführung von Koordinatentransformationen. Doch für uns handelt es sich jetzt um allgemeinere Fragen. Wir wollen hier nur feststellen, daß die theoretisch-physikalische Forschung in ihrer historischen Entwicklung auffallenderweise zu einer Formulierung der physikalischen Ursächlichkeit geführt hat, welche einen ausgesprochen teleologischen Charakter besitzt, daß aber dadurch nicht etwa etwas inhaltlich Neues oder gar Gegensätzliches in die Art der Naturgesetzlichkeit hineingetragen wird. Es handelt sich vielmehr lediglich um eine der Form nach verschiedene, sachlich jedoch vollkommen gleichberechtigte Betrachtungs- weise. Entsprechendes wie in der Physik dürfte auch in der Biologie zutreffen, wo der Unterschied der beiden Betrachtungsweisen allerdings wesentlich schärfere Formen angenommen hat.

In jedem Falle dürfen wir zusammenfassend sagen, daß nach allem, was die exakte Naturwissenschaft lehrt, im gesamten Bereich der Natur, in der wir Menschen auf unserem winzigen Planeten nur eine verschwindend kleine Rolle spielen, eine be- stimmte Gesetzlichkeit herrscht, welche unabhängig ist von der Existenz einer denkenden Menschheit, welche aber doch, soweit sie überhaupt von unseren Sinnen erfaßt werden kann, eine Formulierung zuläßt, die einem zweckmäßigen Handeln entspricht. Sie stellt also eine vernünftige Weltordnung dar, der Natur und Menschheit unterworfen sind, deren eigentliches Wesen aber für uns unerkennbar ist und bleibt, da wir nur durch unsere spezifischen Sinnesempfindungen, die wir niemals vollkommen ausschalten können, von ihr Kunde erhalten. Doch berechtigen uns die tatsächlich reichen Erfolge der naturwissenschaftlichen Forschung zu dem Schlusse, daß wir uns durch unablässige Fortsetzung der Arbeit dem unerreichbaren Ziele doch wenigstens fortwährend annähern, und stärken uns in der Hoffnung auf eine stetig fortschreitende Vertiefung unserer Einblicke in das Walten der über die Natur regierenden allmächtigen Vernunft.

IV

Nachdem wir nun die Forderungen kennengelernt haben, welche einerseits die Religion, andererseits die Naturwissenschaft an unsere Einstellung zu den höchsten Fragen weltanschaulicher Betrachtung knüpft, wollen wir jetzt prüfen, ob und wie weit diese beiden Arten von Forderungen miteinander in Einklang zu bringen sind. Zunächst ist selbstverständlich, daß diese Prüfung sich nur auf solche Gebiete beziehen kann, in denen Religion und Naturwissenschaft zusammenstoßen. Denn es gibt weite Bereiche, in denen sie gar nichts miteinander zu tun haben. So sind alle Fragen der Ethik der Naturwissenschaft fremd, ebenso wie andererseits die Größe der universellen Natur- konstanten für die Religion ohne jede Bedeutung ist.

Dagegen begegnen sich Religion und Naturwissenschaft in der Frage nach der Existenz und nach dem Wesen einer höchsten über die Welt regierenden Macht, und hier werden die Antworten, die sie beide darauf geben, wenigstens bis zu einem gewissen Grade miteinander vergleichbar. Sie sind, wie wir gesehen haben, keineswegs im Widerspruch miteinander, sondern sie lauten übereinstimmend dahin, daß erstens eine von den Menschen unabhängige vernünftige Weltordnung existiert, und daß zweitens das Wesen dieser Weltordnung niemals direkt erkennbar ist, sondern nur indirekt erfaßt, beziehungsweise geahnt werden kann. Die Religion benützt hierfür ihre eigentümlichen Symbole, die exakte Naturwissenschaft ihre auf Sinnesempfindungen begründeten Messungen. Nichts hindert uns also, und unser nach einer einheitlichen Weltanschauung verlangender Erkenntnistrieb fordert es, die beiden überall wirksamen und doch geheimnisvollen Mächte, die Weltordnung der Naturwissenschaft und den Gott der Religion, miteinander zu identifizieren. Danach ist die Gottheit, die der religiöse Mensch mit seinen anschaulichen Symbolen sich nahe zu bringen sucht, wesensgleich mit der naturgesetzlichen Macht, von der dem forschenden Menschen die Sinnesempfindungen bis zu einem gewissen Grade Kunde geben.

Bei dieser Übereinstimmung ist aber doch auch ein grundsätzlicher Unterschied zu beachten. Für den religiösen Menschen ist Gott unmittelbar und primär gegeben. Aus ihm, aus seinem allmächtigen Willen quillt alles Leben und alles Geschehen in der körperlichen wie in der geistigen Welt. Wenn er auch nicht mit dem Verstand erkennbar ist, so wird er doch durch die religiösen Symbole in der Anschauung unmittelbar erfaßt und legt seine heilige Botschaft in die Seelen derer, die sich ihm gläubig anvertrauen. Im Gegensatz dazu ist für den Naturforscher das einzig primär Gegebene der Inhalt seiner Sinneswahrnehmungen und der daraus abgeleiteten Messungen. Von da aus sucht er sich auf dem Wege der induktiven Forschung Gott und seiner Weltordnung als dem höchsten, ewig unerreichbaren Ziele nach Möglichkeit anzunähern. Wenn also beide, Religion und Naturwissenschaft, zu ihrer Betätigung des Glaubens an Gott bedürfen, so steht Gott für die eine am Anfang, für die andere am Ende alles Denkens. Der einen bedeutet er das Fundament, der andern die Krone des Aufbaues jeglicher weltanschaulicher Betrachtung.

Diese Verschiedenheit entspricht der verschiedenen Rolle, welche Religion und Naturwissenschaft im menschlichen Leben spielen. Die Naturwissenschaft braucht der Mensch zum Erkennen, die Religion aber braucht er zum Handeln. Für das Erkennen bilden den einzigen festen Ausgangspunkt die Wahrnehmungen unserer Sinne, die Voraussetzung einer gesetzlichen Weltordnung dient hier nur als die Vorbedingung zur Formulierung fruchtbarer Fragestellungen. Für das Handeln ist aber dieser Weg nicht gangbar, weil wir mit unsern Willensentscheidungen nicht warten können, bis die Erkenntnis vollständig oder bis wir allwissend geworden sind. Denn wir stehen mitten im Leben und müssen in dessen mannigfachen Anforderungen und Nöten oft sofortige Entschlüsse fassen oder Gesinnungen betätigen, zu deren richtiger Ausgestaltung uns keine langwierige Überlegung verhilft, sondern nur die bestimmte und klare Weisung, die wir aus der unmittelbaren Verbindung mit Gott gewinnen. Sie allein vermag uns die innere Festigkeit und den dauernden Seelenfrieden zu gewährleisten, den wir als das höchste Lebensgut einschätzen müssen; und wenn wir Gott außer seiner Allmacht und Allwissenheit auch noch die Attribute der Güte und der Liebe zuschreiben, so gewährt die Zuflucht zu ihm dem trostsuchenden Menschen ein erhöhtes Maß sicheren Glücksgefühls. Gegen diese Vorstellung läßt sich vom Standpunkt der Naturwissenschaft nicht das Mindeste einwenden, weil ja die Fragen der Ethik, wie wir schon betont haben, gar nicht in ihren Zuständigkeitsbereich gehören.

Wohin und wieweit wir also blicken mögen, zwischen Religion und Naturwissenschaft finden wir nirgends einen Widerspruch, wohl aber gerade in den entscheidenden Punkten volle Übereinstimmung. Religion und Naturwissenschaft - sie schließen sich nicht aus, wie manche heutzutage glauben oder fürchten, sondern sie ergänzen und bedingen einander. Wohl den unmittelbarsten Beweis für die Verträglichkeit von Religion und Naturwissenschaft auch bei gründlich-kritischer Betrachtung bildet die historische Tatsache, daß gerade die größten Naturforscher aller Zeiten, Männer wie Kepler, Newton, Leibniz von tiefer Religiosität durchdrungen waren. Zu Anfang unserer Kulturepoche waren die Pfleger der Naturwissenschaft und die Hüter der Religion sogar durch Personalunion verbunden. Die älteste angewandte Naturwissenschaft, die Medizin, lag in den Händen der Priester, und die wissenschaftliche Forschungsarbeit wurde noch im Mittelalter hauptsächlich in den Mönchszellen betrieben. Später, bei der fortschreitenden Verfeinerung und Verästelung der Kultur, schieden sich die Wege allmählich immer schärfer voneinander, entsprechend der Verschiedenheit der Aufgaben, denen Religion und Naturwissenschaft dienen.

Denn so wenig sich Wissen und Können durch weltanschauliche Gesinnung ersetzen lassen, ebensowenig kann die rechte Einstellung zu den sittlichen Fragen aus rein verstandesmäßiger Erkenntnis gewonnen werden. Aber die beiden Wege divergieren nicht, sondern sie gehen einander parallel, und sie treffen sich in der fernen Unendlichkeit an dem nämlichen Ziel.

Um dies recht einzusehen, gibt es kein besseres Mittel, als das fortgesetzte Bemühen, das Wesen und die Aufgaben einerseits der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, andererseits des religiösen Glaubens immer tiefer zu erfassen. Dann wird sich in immer wachsender Klarheit herausstellen, daß, wenn auch die Methoden verschieden sind - denn die Wissenschaft arbeitet vorwiegend mit dem Verstand, die Religion vorwiegend mit der Gesinnung - der Sinn der Arbeit und die Richtung des Fortschrittes doch vollkommen miteinander übereinstimmen.

Es ist der stetig fortgesetzte, nie erlahmende Kampf gegen Skeptizismus und gegen Dogmatismus, gegen Unglaube und gegen Aberglaube, den Religion und Naturwissenschaft gemeinsam führen, und das richtungweisende Losungswort in diesem Kampf lautet von jeher und in alle Zukunft: Hin zu Gott!


  1. Kopie der zweiten unveränderten Auflage
    1938 im Johann-Ambrosius-Barth-Verlag / Leipzig erschienen ↩︎

  2. Nach dem Duden ein erkenntnistheoretischer Standpunkt, der nur das eigene Ich mit seinen Bewußtseinsinhalten als das das eigentlich Wirkliche gelten läßt und alle anderen Ichs mit der ganzen Außenwelt nur als dessen Vorstellung annimmt. ↩︎