Ist der Materialismus ein Idealismus? Reflexionen über den Nagelschen Perspektivendualismus von Engelbert Recktenwald

Es ist immer interessant, Thomas Nagel zu lesen. Sein Lebensthema ist das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität, die Vermittlung der Innen- und Außenperspektive unserer Erkenntnis. Auf beide Perspektiven sind wir angewiesen, wenn wir die Welt verstehen wollen. Die Innenperspektive ist die Perspektive der besonderen Person, die wir sind. Deshalb erscheint uns die Welt auf eine besondere Weise, die auf diese Perspektive zugeschnitten ist. Die Außenperspektive ist die Perspektive, die die Wissenschaft einnimmt. Deren Eigenart ist es, gerade von jeder besonderen Perspektive eines Subjekts abzusehen, die Welt also mit einem Blick von nirgendwo zu betrachten.

Das Typische des Erkenntniszugriffs, der der Außenperspektive eigen ist, liegt in der Realkonstatierung dessen, was der Fall ist. Er registriert das empirisch Gegebene, von dem wir annehmen, dass es so ist, wie es ist, unabhängig von unserer Erkenntnis. Die Wissenschaft hat es mit Fakten zu tun, die sie vorfindet, ohne sie zu konstituieren. Der Prototyp dieser Fakten ist das Physische und Materielle. Ganz anders sieht es bei den Erscheinungen aus, die sich nur unserer subjektiven Perspektive erschließen und an sie gebunden sind. Dazu gehört z.B. die Bedeutung, die wir Dingen oder Ereignissen beimessen, unsere Wertungen, Werte und Gefühle, aber auch so etwas wie die Gesetze der Logik oder das, was man seit John Locke die sekundären Sinnesqualitäten nennt. Es handelt sich um Erscheinungen, von denen wir einsehen, dass es sie nicht gäbe, wenn es kein Bewusstsein gäbe, denen sie erscheinen.

Die Gefahr, die im Bemühen um die Einnahme eines möglichst objektiven Standpunkts liegt, besteht darin, im Zuge der Distanzierung von den subjektiven Perspektiven dieselben so sehr zu dominieren, dass sie mitsamt dem, was sich in ihnen erschließt, als Vorkommnisse wie andere Dinge auch registriert werden. Mit anderen Worten: Das Subjektive und Mentale wird behandelt wie ein Sonderfall des Physischen. Es wird epistemisch dem Instrumentarium zur Erfassung des Physischen angepasst. Dieses Instrumentarium wirkt wie ein Filter: Das Mentale wird gedacht nach dem Modell des Physikalischen, und dort, wo es nicht so gedacht werden kann, wird es eliminiert. Ein Beispiel dafür liefern die Versuche von Daniel Dennett, die Existenz der Qualia mit Argumenten zu bestreiten, die ihre Existenz voraussetzen [1]. Qualia als etwas irreduzibel Subjektives sind ein Störfaktor im Versuch des Szientismus, eine vollständige Weltbeschreibung aus der Außenperspektive zu liefern. Diese Dominanz des Objektiven gegenüber dem Subjektiven, des Außen gegenüber dem Innen, ist die Voraussetzung des Materialismus.

Es ist nun interessant, dass Thomas Nagel diesen Materialismus (so übersetzt Michael Gebauer das Wort “physicalism”) einen Idealismus nennt, und zwar einen “Idealismus der Objektivität” [2] präziser: “der restringierten Objektivität” [3]. Das ist eine Provokation. Denn es bedeutet eine Ohrfeige für den Anspruch der Wissenschaft, die Welt so zu erkennen und zu beschreiben, wie sie an sich ist. Dieser Anspruch will gerade den Subjektivismus überwinden, der sich damit abfindet, dass jeder Erkennende in seiner eigenen, subjektiven Perspektive befangen ist. Doch die Überwindung der subjektiven Perspektive bedeutet, so der Einwand Nagels, auch einen Verlust. Denn auch sie gehört zur Welt, zusammen mit allem, was sich nur ihr erschließen kann. Und selbst die wissenschaftliche Erkenntniseinstellung ist und bleibt eine solche, die dem Menschen qua Mensch eigentümlich ist und aufgrund dieser Spezifität möglicherweise in ihrem Radius so eingeschränkt ist, dass ihr nicht alle Bereiche der Wirklichkeit zugänglich sind. Sie ist nicht vollständig perspektivenlos. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit ist größer als unsere Vernunft.

Das bedeutet: Der Materialismus mit seinem Anspruch, das Ganze der Wirklichkeit zu erfassen, ist eine verkappte Spielart der idealistischen Idee ist, dass der Geist der Wirklichkeit die Bedingungen ihrer Existenz diktiert. Im Fall des Materialismus ist es die wissenschaftliche Erkenntniseinstellung, die diese Rolle übernimmt. Die Behauptung, der Blick von nirgendwo könne das Ganze der Wirklichkeit erfassen, läuft auf die Annahme heraus, dass die Wirklichkeit sich den Erkenntnisbedingungen der Wissenschaft fügt. Nagel dagegen hält die Wirklichkeit für weitaus umfangreicher als das, was der objektivierenden Erkenntniseinstellung zugänglich ist. Realismus bedeutet für ihn die Idee, dass unser Denken den Umfang und den Reichtum des Wirklichen nicht ausmessen kann. Das Sein geht über das Denken hinaus.

Wenn es die privilegierte Perspektive eines individuellen oder auch des kollektiven menschlichen Bewusstseins gäbe, die es uns ermöglicht, die Welt vollständig zu erfassen, dann würde die Welt ganz in der Erscheinung aufgehen, die sich dieser Perspektive darbietet. Der Realismus ist also die Voraussetzung für das Wissenschaftsprojekt einer vollständigen Weltbeschreibung, der Erfolg dieses Projekts aber wäre die Verwandlung dieses Realismus in einen Idealismus in Bezug auf das Erkenntnissubjekt jener Beschreibung.

Um bei bleibendem Erkenntnisoptimismus der idealistischen Konsequenz zu entgehen, könnte man an auf der Subjektseite an der Stellschraube drehen und mit Aristoteles die anima, insofern sie Erkenntnissubjekt ist, im Sinne reiner Potenzialität als tabula rasa ansehen, die eben dadurch offen für alles Sein und deshalb grenzenlos in der Lage ist, durch die mentale Rezeption der substantiellen Form aller Dinge “quodammodo omnia” zu werden. Doch Nagel zeigt - und das ist nun der interessanteste Aspekt, der uns jetzt beschäftigen soll -, dass beim Subjekt die Dialektik zwischen Realismus und Idealismus in anderer Gestalt wiederkehrt.

Die Formulierung, in die er das Problem kleidet, ist zunächst gewöhnungsbedürftig. Sie lautet : Wie kommt es, dass ich Thomas Nagel bin? An die Stelle von „Thomas Nagel“ kann und sollte natürlich jeder Leser seinen eigenen Namen einsetzen.

Nagel ist sich bewusst, dass er mit einer Qualifizierung dieser Frage als eines Pseudoproblems rechnen muss. Ja man kann sogar noch weitergehen und sich fragen, wo man hier auf den ersten Blick selbst ein Pseudoproblem soll erkennen können.

Doch so einfach ist es nicht. Das Anliegen Nagels wird plausibler, wenn wir seiner Aufforderung nachkommen, die Welt als ein Ganzes zu sehen und uns als einen ihrer Bestandteile. Denn wir sind zwar Iche, aber gleichzeitig auch Personen, die intersubjektiv beobachtbar sind und deshalb in der Welt als Ganzes vorkommen. Und nun sollen wir uns fragen: “Wie kann ich etwas so Spezifisches sein wie dies; wie kann ich lediglich eine besondere Person sein?” [4]

Das Problem entsteht durch die Konfrontation des Blicks von nirgendwo mit der Tatsache, dass dieser Blick tatsächlich aber nur der Blick dieser besonderen Person ist, auf die dieser Blick fällt und für den diese Person nur eine unter vielen ist. Mit anderen Worten: In den Augen des Betrachters von nirgendwo hat Thomas Nagel keine privilegierte Stellung. Gerade das macht ja die wissenschaftliche Einstellung aus, dass von jeder besonderen Perspektive abstrahiert wird, und das bedeutet, dass die Perspektive Thomas Nagels keine Bevorzugung verdient gegenüber der Perspektive einer jeden beliebigen anderen Person. Die Person Thomas Nagels ist ein Vorkommnis in der Welt, die sich dem Blick von nirgendwo darbietet wie jedes andere Vorkommnis auch. Und nun stellt sich heraus, dass das Ich, das gerade die Welt als Ganzes denkt, eben dieser Thomas Nagel ist, dass also dieser TN (so kürzt er sich selber ab) sich anscheinend doch eines ganz außerordentlichen Privilegs erfreut. Er und niemand anderes von all den Ichen, die in jenem Blick vorkommen, ist der Blickende. Wie kann es sein, dass TN so privilegiert ist, obwohl doch die objektive Außenperspektive jede Privilegierung eliminiert?

Die Lösung besteht für Nagel in der Entdeckung, dass mit dem “Ich” in der Frage “Wie kann ich etwas so Spezifisches sein wie TN?” ein objektives Selbst gemeint ist, “das jeder von uns in sich enthält, und das eine unbegrenzte Fähigkeit besitzt, vom Standpunkt der Person, welche ich bin, abzusehen und sich eine neue Auffassung der Welt zu bilden, in die es diese Person und ihre Zustände integriert.” [5]

Ich halte dies für eine richtige und bedeutungsvolle Erkenntnis, die ich mit anderen philosophischen Ideen in Verbindung bringen will, um zu zeigen, dass sie Implikationen umfasst, deren sich Nagel wohl nicht bewusst war.

Zunächst einmal bedeutet diese Erkenntnis die weitere Einsicht, dass auch die wissenschaftliche Perspektive, die von der individuellen Perspektive des TN absieht, in Wirklichkeit doch wiederum immer nur eine individuelle Erkenntnisleistung von TN ist. Mit anderen Worten: TN hat die wissenschaftliche Perspektive, die universale Gültigkeit beansprucht, in seine individuelle Perspektive integriert. Der Blick von nirgendwo ist trotzdem immer noch mein Blick. Die Integration der Perspektiven ist also gegenseitig: Nicht nur hat die objektive Perspektive die subjektive integriert, sondern umgekehrt wird auch die objektive Perspektive immer von einem Ich eingenommen, das damit nicht aufhört, ein Ich mit seiner eigenen subjektiven Perspektive zu sein. Bedeutet dies, dass dadurch die objektive, universale Perspektive von der subjektiven, individuellen Perspektive absorbiert und somit ihrer Gültigkeit beraubt wird? Eben nicht! Thomas Nagel geht den umgekehrten Weg und bezeichnet das Ich, dem der Blick von nirgendwo eigen ist, als das eigentliche Ich oder Selbst. Dieses Ich ist mein Wesen: “Meinem Wesen nach bin ich ein Subjekt, das eine zentrumslose Welt auffaßt” [6].

Mit anderen Worten: Durch die Identifikation des Ichs mit TN wird nicht die universale Perspektive des eigentlichen Ichs in der individuellen Perspektive des TN zum Verschwinden gebracht, sondern umgekehrt wird das Wesen von TN als ein solches erkannt, das die individuelle Perspektive von TN zu überschreiten berufen ist. Oder präziser ausgedrückt: TN ist fähig, sein eigenes Wesen zu verwirklichen, sein eigentliches Ich zu erreichen, indem es seine besondere Perspektive überschreitet. Solange es in seiner subjektiven Perspektive gefangen bleibt, ist es noch nicht es selbst.

Die Fähigkeit, die universale Perspektive einzunehmen, ist das, was wir Vernunft nennen. Im Feld der Ethik ist diese Perspektive identisch mit dem unparteiischen Standpunkt. Indem ich meine privilegierte Stellung, die ich unweigerlich in der subjektiven Perspektive habe, durch Einnahme des unparteiischen Standpunkt eliminiere, somit meine eigenen Interessen relativiere und sie deshalb, weil sie meine Interessen sind, nicht für wichtiger nehme als die Interessen anderer Personen, realisiere ich mich als Vernunftwesen. Praktische Vernunft bedeutet die Anerkennung des Vorrangs des Gerechtigkeitsmaßstabs vor dem Standpunkt des Eigeninteresses.

Warum nennt nun Nagel den Materialismus einen Idealismus? Einerseits ist der Materialismus jene Weltanschauung, die den wissenschaftlichen, perspektivenlosen Standpunkt als den allein gültigen betrachtet. Nur so gelingt es ihm, das Mentale aus der Welt hinauszukomplimentieren. Das Mentale wird ganz auf die Seite der subjektiven Perspektive geschlagen und mit der Eliminierung ihrer privilegierten Stellung gleich miteliminiert. Kant wird auf den Kopf gestellt: Für Kant war die Welt, mit der es die Wissenschaft zu tun hat, Erscheinung, während der Mensch als Vernunft- und Freiheitswesen der noumenalen Welt, der Welt an sich, angehört. Im szientistischen Materialismus werden die Verhältnisse umgekehrt: Die sinnlich erfahrbare Welt wird die einzige Wirklichkeit an sich, während Geist, Bewusstsein und Freiheit, also alles Subjektive, dem etwas erscheint, als Schein entlarvt wird. Dabei übersieht der Materialist - und jetzt kommt der Schachzug Nagels ins Spiel - , dass er gerade wegen seines Objektivitätsanspruchs jenen Standpunkt voraussetzt, den Nagel das eigentliche Selbst nennt. Wenn der Materialist konsequent sein will, muss er, sobald er das individuelle Ich durchstreicht, das eigentliche Ich hypostasieren. Der Materialismus schlägt um in einen Idealismus.

Dem Durchstreichen des individuellen Ichs begegnen wir in allen Formen des eliminativen Materialismus. Susan Blackmore z.B. hält den Glauben, dass es ein bewusstes Ich gäbe, für eine Täuschung [7]. Dass dieser Materialismus bei vielen seiner Vertreter nicht in einen Idealismus umschlägt, liegt daran, dass sie sich selbst, ihr eigenes Tun und die Existenz des Standpunktes, von dem aus sie die Welt beschreiben, vergessen. Andere bleiben bei diesem Umschlag auf halbem Weg stehen und in einem Beschreibungskonstruktivismus stecken. Bei Rorty beispielsweise ist zu beobachten, dass er sich nicht entscheiden kann (und es auch nicht will), ob die einzige Realität die Materie ist oder unsere Beschreibung, jenseits derer es keine beschreibungsunabhängige Welt gibt.

Philosophisch ergiebiger ist die Frage, welche Implikationen sich für das individuelle Ich aus seinem Verhältnis zum eigentlichen Ich ergeben.

Der Materialismus anerkennt die Relevanz der Perspektive des eigentlichen Ichs für unsere wissenschaftliche Welterkenntnis, übersieht aber das eigentliche Ich . Nagel dagegen erkennt es, geht aber nicht den Konsequenzen nach, die es für unser menschliches Selbstverständnis haben muss.

Den Widerspruch des Materialismus könnte man auch auf die Formel bringen: Er anerkennt die Vernunftleistung, negiert aber die Vernunft. Er anerkennt ihren Objektivitätsanspruch, weil es ihr gelingt, die materielle Wirklichkeit so zur Darstellung zu bringen, wie sie sich unabhängig von jeder individuellen Bewusstseinsperspektive verhält. Für ihn ist der vernünftige Standpunkt der allein gültige. Aber er negiert die Vernunft, weil er so gebannt auf die Materie blickt, dass er den Blick selber vergisst. Er ist nur an der Materie interessiert. Durch diese Interessenfixiertheit ist er immun gegen die Zumutung der transzendentalphilosophischen Rückwendung der Vernunft auf sich selbst. Er anerkennt das Ergebnis der Vernunft, nicht aber die Vernunft selber.

Umgekehrt wird Nagel zu wenig dem Umstand gerecht, dass die Perspektive des eigentlichen Selbst ihrerseits das Ergebnis der Handlung eines individuellen Ichs ist. Dieses hat sich zu dieser Perspektive aufgeschwungen. Das eigentliche Selbst ist das empirische Ich selber, aber als ein solches, das sein Wesen verwirklicht. Vor der Verwirklichung existiert das eigentliche Selbst, die Vernunft, als ein dem individuellen Ich vorgegebener, nicht disponierbarer Ort der Verwirklichung dessen, was das individuelle Ich zu sich selbst bringt, als ein Ideal, das erst jene Gültigkeit des Erkenntnisanspruchs ermöglicht, auf welche die szientistischen Materialisten so stolz sind. Die von den Materialisten geleugnete Vernunft ist es, die dem wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch Gültigkeit verleiht und die sich damit als etwas erweist, das radikal jenseits von allem existiert, das als bloß Mentales in der je subjektiven Perspektive des Einzelnen aufscheint und darin aufgeht. Vernunft ist gleichzeitig das Innerste der je einzelnen Person und das Äußerste der wissenschaftlichen Perspektive. Es ist dasjenige, was das Innen und Außen gleichermaßen umfasst und so erst kommensurabel macht.

Vom szientistischen Materialismus wird die Legitimität des Vernunftanspruchs in der wissenschaftlichen Welterfassung anerkannt, in der Ethik dagegen normalerweise übersehen. Gemeinsam ist dem jeweiligen Ermöglichungsgrund dieser Legitimität die Perspektivenüberwindung, also der Blick von nirgendwo in der Wissenschaft, der unparteiische Standpunkt in der Ethik.

Bei Kant können wir die mangelnde Unterscheidung zwischen eigentlichem und individuellem Ich in anderer Gestalt wiedererkennen. Sie führt bei ihm zu einem Erklärungsdefizit in Bezug auf das Verhältnis des Gedankens unserer Unterordnung unter das Sittengesetz zur Idee der Selbstgesetzgebung. In seiner “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” finden wir einerseits starke Ausdrücke für unsere Unterordnung unter das Gesetz, andererseits eine außerordentliche Betonung unserer Autonomie. In dieser Spannung spiegelt sich exakt das Verhältnis wider, in dem sich das Nagelsche individuelle Ich zum eigentlichen Ich verhält. Man könnte es folgendermaßen formulieren: Wir sind Gesetzgeber, insofern wir Vernunft sind . Wir sind dem Sittengesetz unterworfen, insofern wir Vernunft bloß haben .

Ich will das näher erklären: Der kategorische Imperativ ist ein Faktum der Vernunft. Insofern er ein Faktum ist, ist er etwas, welches das empirische Ich vorfindet. Es entdeckt in sich das Sittengesetz und kommt darüber ins Staunen, wie Kant es so schön am Ende der “Kritik der praktischen Vernunft” beschreibt. Insofern ist das empirische Ich dem Sittengesetz unterworfen. Es gelangt zur Autonomie nur in dem Maße, wie es dem Sittengesetz gehorcht und sich aus der Fremdbestimmung der Gegenstände seiner Neigungen befreit.

Andererseits realisiert sich gerade durch diesen Gehorsam der Mensch als Vernunftwesen. Diese Vernunft ist ihm nicht etwas Fremdes, sondern sein Wesen, in dem allein der Mensch zu sich selbst kommt. Insofern der Mensch “zur Vernunft kommt”, wird er autonom und selber zum Gesetzgeber, denn die Vernunft, die als Gesetzgeber fungiert, ist ja gleichzeitig auch seine Vernunft. Indem der Mensch moralisch wird, steigert er nicht etwa den Charakter der Unterwerfung, den seine Pflichterfüllung besitzt, sondern steigert er seine Identität mit der Vernunft, die die Quelle des Gesetzes ist. Er wird selber zum Gesetzgeber.

An dieser Stelle möchte ich, bevor ich fortfahre, noch auf einen Einwand eingehen, der in Form einer These erhoben wird, die tatsächlich zuweilen vertreten wird. Dieser Einwand betrifft die in diesen Ausführungen zu beobachtende Gleichsetzung von kategorischem Imperativ und Sittengesetz. Statt dessen vertritt er die These, dass der kategorische Imperativ bloß ein Prüfverfahren zur Evaluierung von Normen sei, die als Konkretionen des Sittengesetzes in Frage kommen. Dieser Einwand übersieht, dass auch der kategorische Imperativ ein Imperativ ist, unbeschadet seiner Funktion als Prüfverfahren. Der Kategorische Imperativ sagt nicht nur: Wenn du moralisch sein willst, dann handle so und so! Sondern er sagt: Handle so! Er gibt das Prüfverfahren zu jenem Handeln an, das er zugleich kategorisch befiehlt. Es wäre ein völliges Missverständnis Kants, wenn die Unterwerfung, von der er spricht, nur die Unterwerfung unter die instrumentelle Notwendigkeit eines Prüfverfahrens zum Generieren von Normen wäre, die ihrerseits erstmals den moralischen Imperativ ins Spiel brächten. Der kategorische Imperativ ist selber moralisch und Gegenstand einer sittlichen Urerfahrung, vergleichbar der Synderesis bei den Scholastikern. Unterwerfung und Selbstgesetzgebung verteilen sich bei Kant nicht auf hypothetische und kategorische Imperative, sondern auf verschiedene Aspekte unseres Selbst in Bezug auf den kategorischen Imperativ als Quelle des aus ihm zu deduzierenden Sittengesetzes.

Nach dieser Klärung können wir nun die exakte Parallele des ambivalenten Verhältnisses unseres Ichs zum Sittengesetz einerseits und des ambivalenten Verhältnisses der wissenschaftlichen Einstellung zur Vernunft andererseits erkennen.

Die eine Seite der Parallele: Einerseits sind wir dem Sittengesetz unterworfen, andererseits besitzen wir Autonomie und sind selbst Gesetzgeber. Die andere Seite: Einerseits sind wir immer ein individuelles Ich mit seiner besonderen Perspektive, andererseits können wir uns zur universalen Perspektive aufschwingen und unser eigentliches Selbst erreichen, den Ort des Blicks von nirgendwo.

Gemeinsam ist beiden Parallelen die Fähigkeit zur Selbstrelativierung als Folge der Einnahme eines Standpunkts, der jenseits dieser Relativierung liegt. Dieses Moment des Absoluten liegt deshalb sowohl im Begriff der Wahrheit wie in dem des Guten. In der Wissenschaft erreichen wir einen Standpunkt, der eine nichtrelative Beschreibung der Welt erlaubt, in der Ethik eine unparteiische Beurteilung dessen, was zu tun ist.

Dieser Standpunkt selber aber ist eingenommen von dem individuellen Ich, das als dieses individuelle Ich nicht aus seiner Haut kann. Es bleibt immer dieses Ich, das seine individuelle Perspektive niemals los wird. Aber es kann die absolute Perspektive in seine individuelle Perspektive integrieren. Das bedeutet: Indem es dies tut, wird es virtuell, nicht real jene Vernunft, die in Wirklichkeit der Gesetzgeber ist, die Quelle der Gültigkeit jenes Anspruchs, der der Wissenschaft im Bereich der Erkenntnis, dem Sittengesetz im Bereich des Handelns eigen ist. Dieser Aufschwung des individuellen Ichs ist nur möglich, weil Vernunft nicht bloß etwas Mentales ist von der Art, wie es in der wissenschaftlichen Perspektive zum Verschwinden gebracht wird. Die Vernunft ist nicht etwas, das bloß den Status einer Erscheinung in der subjektiven Perspektive des individuellen Ichs hat.

Es wird nun Zeit, eine Zweideutigkeit im Begriff der Außenperspektive zu beseitigen. Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass dieser Zweideutigkeit eine Ambivalenz der Bewertung dieser Außenperspektive entspricht: Sie ist einerseits das Proprium des szientistischen Materialismus, der durch Leugnung des Geistigen die Grundlagen seines eigenen Anspruchs untergräbt, andererseits die Voraussetzung der Einlösung des Vernunftanspruchs, die Wirklichkeit perspektivenlos zu erkennen.

Diese Zweideutigkeit hängt mit der doppelten Möglichkeit zusammen, die eigene Perspektive zu transzendieren. Die eine Möglichkeit besteht darin, mit diesem Überschreiten die je einzelnen subjektiven Perspektiven zu übersehen, zu ignorieren oder gar zu leugnen. Nagel beschreibt diesen Vorgang in seiner Erklärung der Genese des physikalischen Weltbildes: “Die physikalische Welt, wie sie eigentlich beschaffen sein soll, enthält keine subjektiven Gesichtspunkte, sie enthält nichts, was nur aus einer besonderen Perspektive zugänglich wäre.” Dem szientistischen Materialisten ist es infolgedessen eigen, “die Wirklichkeit von etwas zu bestreiten, das sich nicht als auf das Physikalische reduzierbar erweist” [8].

Die andere Möglichkeit besteht darin, die je fremde Perspektive ernstzunehmen und in die eigene zu integrieren. Die erste Möglichkeit führt zur Leugnung des Subjektiven überhaupt, die zweite zur Anerkennung fremder Subjektivität. Die erste Möglichkeit entgeht dem Solipsismus durch Leugnung des eigenen Ichs, der zweite überwindet ihn durch Anerkennung mehrerer Ichs.

Nagel sieht die Möglichkeit und Notwendigkeit der Integration der subjektiven Perspektiven, aber in ihrer Durchführung in den je verschiedenen Bereichen der Metaphysik, Ethik und Logik bleibt er fragmentarisch. Die Linie dieser zweiten Möglichkeit konsequenter durchgezogen zu haben, ist das Verdienst der Philosophie Robert Spaemanns. Er bezeichnet die Anerkennung fremder Subjektivität in Form des Selbstseins von Personen als Erwachen zur Wirklichkeit. Ausgangspunkt dieses Gedankens ist gerade die Anerkennung dessen, was der Skepsis der Physikalisten gegenüber der individuellen Perspektive Legitimität verleiht, nämlich der relative Für-uns-Charakter dessen, was wir wahrnehmen. Alles, was wir wahrnehmen, ist zunächst einmal Erscheinung. Gerade die Qualia, die als uneinnehmbare Bastion des Anti-Materialismus gelten, haben kein Sein jenseits ihres Wahrgenommenseins. Wo hört das percipi auf und beginnt ein Sein jenseits des percipi? Darüber kann man lange streiten. Wo genau die Grenze liegt, mag ungewiss sein, sicher aber ist Eines: In dem Moment, wo ich den Anderen als Person wahrnehme und anerkenne, habe ich Selbstsein und damit Subjektivität, in deren Perspektive ich wiederum auftauche als Person, deren Sein als Selbstsein anerkannt sein will. Gleichgültig, wo ich die Grenze zwischen percipi und Sein lokalisiere: der Andere ist auf jeden Fall jenseits dieser Grenze. Personsein ist Wirklichkeit katexochen.

Damit eröffnet sich eine dritte Möglichkeit gegenüber der Nagelschen Alternative: Ich kann auch die Perspektive des Anderen einnehmen. Das ist der radikale Gegensatz zur physikalistischen Überschreitung der eigenen Perspektive: nicht Leugnung oder Marginalisierung subjektiver Perspektiven, sondern ihr Ernstnehmen. Dieses Ernstnehmen führt zu einem objektiven Standpunkt durch Verschmelzung meines Horizonts mit dem der Anderen: Aus meiner Welt wird unsere Welt. “Im Wachen haben wir Eine und gemeinsame Welt. Die Träumenden aber wenden sich jeder dem Eigenen zu.” Dieses Wort Heraklits hat Spaemann einem seiner Werk als Motto vorangestellt.

Das Erwachen zur Wirklichkeit besteht in der Wahrnehmung des Anderen als einer Person, die ebenso wie ich Wahrnehmung und Interessen hat und in der Lage ist, deren Relativität durch die virtuelle Identifikation mit einer Vernunft zu überwinden, die uns gemeinsam vorgegeben ist. Die gemeinsame Überwindung der je eigenen Erkenntnisperspektive in einem gemeinsamen Wahrheitshorizont und Wahrhaftigkeitsethos konstituiert die Wissenschaftsgemeinde, die gemeinsame Überwindung der je eigenen Interessenperspektive in der gemeinsamen Anerkennung eines nichtrelativen Sittengesetzes konstituiert die sittliche Gemeinschaft. Mit Recht lokalisiert Spaemann das Gewissen diesseits von theoretischer und praktischer Vernunft als deren gemeinsame Wurzel: Denn im selben Moment, in dem ich Selbstsein wahrnehme, also zur Wirklichkeit erwache, erwacht auch mein Gewissen, nehme ich also den Anspruch wahr, der vom Anderen ausgeht: „Töte mich nicht“, sagt sein Antlitz zu mir (Emmanuel Levinas), sobald ich es erkenne.

Das Gewissen ist das Persönlichste im Menschen, und gerade in ihm offenbart sich das Allgemeinste und Allgemeingültigste, nämlich das Sittengesetz, das für alle nur denkbaren Vernunftwesen in allen möglichen Welten gilt. Dieser Charakter des Gewissens hängt wiederum zusammen mit dem Verhältnis von Freiheit und Erkenntnis. Der Vollzug von Freiheit ist immer das unvertretbar Persönlichste, nie Verallgemeinerbare eines Menschen. Nur im Vollzug dieser individuellen Freiheit der Anerkennung des Unbedingten erreiche ich jene Wirklichkeit, die ich mit Anderen teile und die Kommunikation und Gemeinschaft ermöglicht. Der je individuelle Akt der virtuellen Identifikation mit der Vernunft führt zur Erfahrung der Realität jenes Unbedingten, das in der Innenperspektive jedes Gewissens aufscheint und zugleich sowohl höchste Erkenntnis wie tiefste Gemeinsamkeit ermöglicht: der Realität der Liebe. Und zwar jene Liebe, von der zu Recht gesagt wird: Amor oculus est. Sie allein ist es, die den Nagelschen Perspektivendualismus ohne Verlust auf beiden Seiten überwindet.

[1] Daniel Dennett, Qualia eliminieren, in: Thomas Metzinger (Hg.), Grundkurs Philosophie des Geistes, Band 1: Phänomenales Bewusstsein, Paderborn: mentis 2006, 2. Auflage 2009, S. 205-249 .

[2] Thomas Nagel, Die Grenzen der Objektivität, Stuttgart: Reclam 1991, S. 30.

[3] Thomas Nagel, Der Blick von nirgendwo. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Michael Gebauer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, stw 2012, S. 49.

[4] Grenzen, 33 f.

[5] Grenzen 34.

[6] Grenzen 34.

[7] Susan Blackmore, Bewusstsein. Eine sehr kurze Einführung, Bern: Hogrefe 2014.

[8] Grenzen 15.